Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929

Bücherschau · America set free

Im ganzen habe ich natürlich auch seit dem Erscheinen des letzten Hefts dieser Mitteilungen wenig gelesen: ich war, soweit es mein vieles Kranksein gestattete, mit der Ausarbeitung von America set free beschäftigt (das übrigens erst im Herbst 1929 erscheinen wird. Dieses Werk erscheint zunächst nur englisch, da ich es von Hause aus englisch konzipiert und redigiert habe und mir die Zeit fehlt, es jetzt gleich in die so sehr andere deutsche Geistesart zu transponieren. Wer sich darüber wundern sollte, dass ich englisch schreibe, der bedenke, dass dies ein Buch in erster Linie nicht über Amerika, sondern für Amerikaner ist; es soll ihnen helfen; und dazu musste ich mich natürlich von Hause aus auf ihre psychische Artung einstellen). Immerhin habe ich inzwischen allerhand Americana wenigstens durchflogen und so erfülle ich wohl eine Pflicht, wenn ich kurz bezeichne, was davon mir lesenswert erscheint, was falsch, und wenn letzteres, warum.

Im großen und ganzen ist das meiste, was bisher über Amerika geschrieben ward, falsch oder unfair, schon allein, weil es von der noch so unbewussten Voraussetzung der Übertragbarkeit europäischer Wertmaßstäbe auf Amerika ausgeht. Zu dieser verzerrenden Voraussetzung tritt in überaus vielen Fällen die Verdunkelung durch die Brille vor Ressentiment und Neid. Hermann Georg Scheffauers Das Land Gottes atmet durchaus die Psychologie des Vertriebenen. Adolf Halfelds Amerika und der Amerikanismus enthält viel gute Einzelheiten, aber das Ganze ist doch schief gesehen, weil es von einem deutschen Geistigen geschrieben ist, der sich in den Vereinigten Staaten allzu unwohl fühlt. Der Hauptressentiment-Held unter Amerikanern ist Upton Sinclair: um aus ihm einen Idealisten, ja einen Märtyrer zu machen, bedurfte es eines Übermaßes von Michelei. In Amerika, wie überall, wo Bolschewismus unmöglich ist, floriert die Spezies des Salon-Bolschewisten. Dieser meint es hie und da wirklich ernst, zum mindesten hat er es in irgendeinem Augenblick seines Lebens getan. Aber er ist nicht ernst zu nehmen, weil er nichts Wirkliches repräsentiert. In einem gesunden Lande ist der Kranke niemals repräsentativ, und kann er nicht umhin, die Wirklichkeit in verzerrter Perspektive zu zeigen. So wüßte ich kein Buch von Upton Sinclair, das nicht wesentlich falsch wäre; schon allein weil er das Land der größten Neidfreiheit, des größten Ressentimentmangels in einer Atmosphäre evoziert, die wohl in Deutschland häufig ist (eben deshalb findet Sinclair in Deutschland so viele gläubige Leser), aber drüben im Großen überhaupt nicht vorkommt. Demgegenüber ist Sinclair Lewis wirklich repräsentativ.

Doch nun zu weniger bekannten Büchern. Das weitaus beste, was ich über die wahre Seele Amerikas las, ist das Buch The American Mind in Action von Harvey O’Higgins and Edward H. Reeds (New York. Harper & Brothers). Es ist eine Art Psychoanalyse der repräsentativsten Amerikaner; insofern es dergestalt ins Unbewusste eindringt, enthält es mehr Wesentliches als alle Bücher zusammen, die sich mit der augenfälligen Seite der Neuen Welt befassen. Sonst vergleichbar mit diesem Buch sind nur die aus amerikanischer Feder, die aus tiefer Liebe zu langangestammter Heimat hervorgehen. Unter diesen nenne ich The Golden Day (eine historische Studie) von Lewis Mumford (New York, Boni & Liveright) und vor allen Dingen Understanding America von Langdon Mitchell (George H. Doran, New York), welches Buch meines Wissens zum erstenmal in die tieferen Gründe des gegenseitigen Missverstehens von Amerika und Europa eindringt. Wer die Seele des modernen amerikanischen Geschäftslebens kennenlernen will, die immer noch eine hochethische Seele ist, der lese lieber als alle Lehrbücher darüber, Claude C. Hopkins Autobiographie My Life in Advertising (Harper & Brothers); hier schreibt einer über Erfolg in Reklame-Kampagnen, wie Caesar über seine Feldzüge schrieb. An kritischen Studien sind lesenswert Edward R. Lewis, America, Nation or Confusion, a study of our immigration problem (Harper & Brothers) und Carl Becker Our Great experiment in Democracy (Harper & Brothers); ferner Civilization in the United States, an inquity by thirty Americans (New York, Harcourt, Brace & Co.). Endlich — last but not least — Alain Locke The New Negro (New York, Albert & Charles Boni). Dieses Buch gibt einen ausgezeichneten Überblick über die Renaissance, welche der schwarze Mensch eben jetzt in den Vereinigten Staaten erlebt. Mehr möchte ich hier nicht sagen, da ich die Negerfrage sehr ausführlich in meinem Amerika-Buch behandle.

Die Bücher von Nicht-Amerikanern über Amerika sind fast alle schlecht oder zum mindesten unwesentlich, weil sie in die Untergründe des sichtbaren Geschehens überhaupt nicht hinabtauchen. Dies gilt zum Teil auch von dem gerade in Amerika sehr populären Buch von André Siegfried. Aber das Büchlein Qui sera le maitre, Europe ou Amdrique? von Lucien Romier, Redakteur des Figaro (Paris, Hachette) bildet eine rühmliche Ausnahme. Auch Romier versteht Amerika eigentlich nicht. Aber erstens sieht er sehr scharf: Dann aber hebt sich das Sonderliche an der Neuen Welt gerade vom Hintergrund seiner starren französischen Vorurteile besonders plastisch ab. Hier denke ich besonders an seine Warnung, die Männer Amerikas könnten einmal gegen die Frauen revoltieren, was zu einer nie dagewesenen Versklavung führen dürfte… Empfehlen kann ich hier ferner Marta Karlweis Eine Frau reist durch Amerika (S. Fischer). Sie hat wirklich die Unter- und Hintergründe geschaut. Aber ihre europäische Phantasie war anderseits zu stark, um dem ganzen Anderssein Amerikas gerecht zu werden. Nur die Erzählung Firenze oder das amerikanische Glück die wirklich ausgezeichnet ist, zeichnet ganz echt amerikanische Typen — ganz echt insofern, als europäische Problematik gar nicht störend mitklingt.

Zum Schluss noch ein Wort über ein Buch, das die ferne Indianerzeit betrifft.

Es ist ein Verdienst Friedrich von Gagerns, dass er im Grenzerbuch (Berlin, Paul Parey) jene der Zeit nach gar nicht so ferne Epoche, wo der Kampf an der Grenze den Hauptinhalt des amerikanischen Lebens ausmachte, noch einmal evoziert; denn fast hat die Welt sie vergessen. Da sieht man, dass der Mensch nicht weniger grausam ist als die Natur. Amerika hat sich in den letzten hundert Jahren nicht weniger vollständig verändert, als Deutschland es getan hätte, wenn Chinesen in dasselbe einfielen und die Deutschen ausrotteten. Und dergleichen wird, bis zum jüngsten Gericht, immer wieder möglich sein… Wahrlich großartig ragt da besonders die Gestalt Daniel Boones, des Vorbilds von Coopers Lederstrumpf hervor. Zumal in seinem tragischen Ende, von dem kaum ein Europäer etwas weiß. Immer west- und südwärts drang dieser edle Jäger, immer erneut seinen Besitz preisgebend, weil er nichts von den besseren Papieren verstand, mit denen die ihm folgenden Spekulanten und Geschäftsleute ihr besseres Recht auf das von ihm Eroberte und Erschlossene bewiesen. Und immer weiter wandernd gelangte er zuletzt aus dem Gebiet der Vereinigten Staaten hinaus. Dort verstand ihn zuletzt niemand mehr. Da bot ihm der Gouverneur eines damals noch spanischen südlichen Staates mit großer Geste im Namen seines Königs einen königlich großen Landbesitz zum Geschenk an: das sei das mindeste, was einem so großen Manne als sein Recht gebühre… Und Boone verstarb also auf fremdem Hoheitsgebiet…

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
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