Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929

Bücherschau · Oscar A. H. Schmitz · Wespennester

Oscar A. H. Schmitz kommt voran. Nicht dass er sich selbst veränderte, so wie er es manchmal meint: das ursprüngliche Gefüge einer Seele kann keine Analyse wandeln, es sei denn zu schlechtem Ende; und nur wo unmittelbar Krankheit vorliegt, vermag sie zu steigern, insofern sie völlig gebundene Energien freimacht. Aber seine intensive Beschäftigung mit Jung hat Schmitz’ Verstand reiches Material zugeführt, sowie dessen Horizont erweitert, so dass er, obgleich persönlich kein Psychologe, d. h. ohne unmittelbaren Kontakt mit dem Unbewussten seines Nächsten, die Zeiterscheinungen heute entschieden tiefer deutet als vorher. Dies zeigt sich besonders deutlich in seinem Buche Wespennester (München, Musarion-Verlag). Dessen erster Teil mit dem Gesamttitel Der Bankrott der modernen Persönlichkeit ist sehr lehrreich als Erläuterung des Individualitätsbegriffes, den die jüngste Psychologie an die Stelle dessen der idealisierten Persönlichkeit setzt. Doch diesen Teil dürften nicht viele ohne weiteres verstehen. Dagegen werden weiteste Kreise dessen zweiten Teil, Die Verwirrung der Geschlechter mit Gewinn lesen: mit seltener Klarheit stellt Schmitz darin die wahre Lage des modernen Mann-Weib-Problems hin. Insbesondere sollten die vielen tausend intelligenten Mädchen, die mit dem Problem Beruf und Familie ringen, dieses Buch sehr aufmerksam studieren: es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht wesentliche Förderung dadurch erführen. Schmitz hat nämlich die seltene Gabe wirklich gemeinverständlicher Darstellung. Und das ist es wohl, worauf es vor allem ankommt, wenn vielen Menschen geholfen werden soll.

Doch was mich persönlich an Schmitz’ neuem Buch besonders interessiert hat, ist ein anderes. Es ist der folgende Passus auf S. 189:

Maßlos, wie sie von Natur ist, erscheint die Frau oft allzu bereit, auch das Minderwertige, Närrische, vor allem Scheinwerte mit ihrer Hege und Pflege zu umgeben. Das kann nicht anders sein, denn die Mutter darf den Grad ihrer Liebe nicht nach der Schönheit, Gesundheit und Begabung ihrer Kinder bemessen. Naturgemäß nimmt sich die Mutter des Schwachen, Unvollkommenen, Minderwertigen besonders an. Nun handelt es sich aber im kämpfenden Leben der Männer gerade um das Gegenteil.

Nun kommt das, was ich meine:

Der Verfasser hat einmal einer wissenschaftlichen Debatte in einem sehr hochwertigen Verein beigewohnt, die dadurch völlig sabotiert wurde, dass Frauen immer wieder die längst erledigten Argumente des schwächsten Redners aufnahmen, obwohl diese ihren allgemein bekannten Überzeugungen durchaus nicht entsprachen. Als man das ihnen später vorhielt, bekam man zu hören, sie hätten es nicht mehr mit ansehen können, wie der wohlmeinende Mann immer von oben herab abgefertigt wurde.

Für diesen Passus bin ich Schmitz von Herzen dankbar: dank diesem habe ich zum erstenmal verstanden, wieso es kommt, dass so viele Deutschen von heute instinktiv für das Minderwertige Partei nehmen, sobald es vom Wertestandpunkt aus mit solcher Schärfe verurteilt wird, dass sie fühlen, dass es an sein Leben geht. (Dies gilt nie von bloßer intellektueller Widerlegung, die in Deutschland mit kompensatorischer Unerbittlichkeit gehandhabt wird, sondern nur von Entwertung. Werten tut das Gefühl, nicht der Verstand; das Gefühl weiß andererseits unmittelbar, wo die größere Kraft liegt, weshalb es, ganz richtig, nie zur Gegenaktion herausgefordert wird, wo ein Minderwertiger den Höherwertigen verurteilt.) Hier äußert sich wieder einmal der weibliche Charakter der Deutschen, den ich im Spektrum Europas nachgewiesen habe. Aber Schmitz’ Beobachtung führt noch weiter zur Entdeckung einer neuen Verstehens-Dimension für die Missetaten der deutschen Billigkeit. Deren Sinn ist: Wert soll nicht entscheiden. Das ist echt weiblich gedacht. Ebenso steht es mit dem mangelnden Sinn für selbständiges und souveränes Werturteil. Inwiefern dies den mangelnden deutschen Sinn für nationale Ehre erklärt, habe ich in meinem Spektrum S. 125 gezeigt:

Ehre ist nie sachlich zu begründen; das Gefühl dafür besteht entweder primär, oder es fehlt.

Aber gleiches gilt natürlich für das Individuum. Der Mensch hat Ehrgefühl ebendeshalb in direkter Proportion zu dem, in welchem Grad er den Mut hat, in Wertfragen letztinstanzlich für sich zu entscheiden. Was hier als Anmaßung getadelt wird, ist vielmehr die selbstverständliche Haltung jedes Menschen von primärem Wertgefühl. Vom Wertestandpunkt gibt es nun natürlich überhaupt keine menschlichen Erwägungen: ebendeshalb war Herausforderung auf Leben und Tod in allen Zeiten bestimmender Ehre Selbstverständlichkeit. Aber die Frau verstand nie den männlichen Ehrbegriff, wenn der Wertgesichtspunkt das Menschliche gefährdete, und ergriff dann instinktiv für das Wertlosere Partei.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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