Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929
Bücherschau · Memoirs of Alexander Wolkoff-Mouromtzoff
Wolkoffs Memoiren sind in englischer Sprache nun erschienen (Memoirs of Alexander Wolkoff-Mouromtzoff, London 1928, John Murray, Preis 21 Shilling). Noch nie ward mir so klar, als bei dieser Lektüre, welche unüberbrückbare Kluft die neue Welt, soweit sie wirklich neu ist, von der alten scheidet, soweit sie wirklich noch die alte Kultur traditionell verkörperte. Ich kann mir leicht denken, dass Menschen der Nachkriegsgeneration das häufige bloße Aufzählen von Bekanntschaften aus den ersten Kreisen, worauf manche Erzählungen schließlich herauskommen, als Snobismus oder gesellschaftlichen small talk beurteilen werden. Und doch werden sie dabei vollkommen im Unrecht sein: die alte Kultur, wie jede Kultur, war eine Seinskultur, und da war natürlich das bloße Dasein von Wertvollem Wert. Es handelt sich hier um das, worauf Goethe so oft von seiner historisch-sozialen Position aus hinwies, dass der Edelmann durch sein bloßes Dasein existenzberechtigt sei, während der Bürger sich mal für mal erweisen und ausweisen müsse. Ein Deutscher oder Engländer oder Franzose hätte nun auch als Achtziger heute nicht so schreiben können, denn lange vor dem Weltkrieg war die alte Ordnung tatsächlich aufgelöst. Aber in Russland lebte die ganz dünne wirklich kultivierte höchste Oberschicht tatsächlich im Geist des Ancien régime, d. h. der Zeit vor der französischen Revolution, fort. Auch ich ward noch z. T. in diesem Geist erzogen. Französisch als eigentliche Gesellschaftssprache zu reden, war auch noch in meinem Vaterhause Selbstverständlichkeit, genau wie im 18. Jahrhundert in der ganzen Welt. Und neulich erzählte mir meine Schwester, sie hätte in der Touraine, also in weltferner französischen Provinz, den leibhaftigen Geist, in dem wir aufwuchsen, wiedergefunden. Dies war, in abstracto bestimmt, ein Geist selbstverständlicher innerer Bindung an ein allgemeingültiges adeliges Ethos. So atmen denn auch Wolkoffs Memoiren vor allem den Geist der Vornehmheit des 18. Jahrhunderts; er gibt dem an sich Privaten einen tieferen Sinn. Und ich finde es höchst dankenswert, dass wir nun die Möglichkeit haben, die letzte Zeit europäischer Kulturblüte im alten Sinn, die Zeit um Wagner, Liszt, Tolstoi, Eleonora Duse bis zum Weltkrieg einmal vom Hintergrund noch kultivierterer Zeiten abgehoben zu sehen.
Da sieht man erst ganz, wie wahr es ist, dass hier kein Übergang möglich war ohne Unstetigkeitsmoment. Wie soll es von einer Höchstkultur der bestimmenden Wenigen einen Weg zur Kultur aller geben? Hier liegt der tiefste Sinn des schlechthinigen Untergangs der russischen Aristokratie. Dies nun hat Wolkoff wunderbar klar erfasst. Den Weltkrieg und dessen Sinn hat er nicht mehr verstanden — der lag jenseits seines Zeitgeistshorizonts; insofern hoffe ich in seinem eigensten Interesse, dass die wenigen Seiten darüber in zukünftigen Auflagen ausgemerzt werden. Dagegen hat Wolkoff wie vielleicht keiner begriffen, warum das alte Russland sterben musste. Höchst interessant ist da ein Brief aus dem Jahre 1905 an seine Kinder, in dem er begründet, warum er an der Liberalisierung Russlands persönlich nicht teilnehmen will; sie sei unter allen Umständen aussichtslos; und im gleichen Sinn beeindruckte es mich tief, wie er, der extreme Aristokrat, noch im vergangenen Jahre ruhig zu mir sagte, es sei doch sehr wohl möglich, dass das nächste Zeitalter kommunistisch sein werde…
Aber wenn aus diesen Lebenserinnerungen eines wunderbar luziden Geistes mit einzigartiger Klarheit hervorleuchtet, warum die alte Kultur nicht fortleben konnte, so zeigen sie andererseits, um wieviel höher selbst der Durchschnittstypus ihrer Träger stand als irgendein moderner Mensch. Wolkoff schildert mit viel Liebe eine Reihe nicht gerade hochbedeutender Persönlichkeiten; unter diesen sind die Frauenschilderungen fast immer gut gelungen. Was einem da nun auffällt, ist das selbstverständlich hohe Gesinnungsniveau dieser Kreise. Und da wird einem vollends klar, dass es sich bei ihrem Ende nicht etwa um das Ende eines Minderwertigen handelt, sondern um den natürlichen Tod eines an sich sehr viel Höherwertigen, als die demokratische Welt noch irgendwo hervorgebracht hat. Woraus denn folgt: freilich musste die alte Welt untergehen, denn sie war ein Mikrokosmos im Makrokosmos; und freilich war nicht zu verlangen, dass dieser dauernd zum Besten jenes lebte, ohne selber höher zukommen. Aber bevor der moderne Mensch, ob Amerikaner, ob Bolschewist, ob europäischer Nachkriegsdemokrat, das menschliche Niveau erreicht hat, wie es fast alle Freunde Wolkoffs aus der großen Welt verkörpern, sollte er sich einfach schämen, zu jener alten Welt nicht aufzuschauen.
Aber das besondere Interesse von Wolkoffs Memoiren wird für die Mehrzahl natürlich an einzelnen bedeutenden Persönlichkeiten haften. Da ist denn auf die fabelhaft plastische Schilderung des Menschen Richard Wagner hinzuweisen. Historischen Wert hat hier zumal die Feststellung, dass die Nachwelt die Totenmaske Wagners — Wolkoff verdankt. Ebenso bedeutend ist die Schilderung Tolstois. Da ist endlich einer, der diesen echten russischen Aristokraten richtig verstand. Doch am ergreifendsten ist das Eleonora Duse betreffende Kapitel. Diese hat Wolkoff recht eigentlich gemacht
. Aber mit wunderbarer Feinfühligkeit verstand er, dass sie D’Annunzio folgen musste und zog sich dann zurück.
Soviel von dem, was Deutsche besonders angeht. Menschheitsbedeutsamer noch sind natürlich die Schilderungen und Beurteilungen des alten Russland, besonders des Russland aus der Bauernbefreiungszeit. Doch man nehme das Buch selbst zur Hand.