Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
17. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1930
Bücherschau · Bücher über Südamerika
Eine Bücherschau wie die bisherigen kann ich dieses Mal nicht schreiben, da ich seit dem Erscheinen des letzten Hefts dieser Mitteilungen — kaum gelesen habe. Bis Ende März 1929 ging ich vollkommen in der Endarbeit an America set free auf. Dann begann ich Spanisch zu lesen, um möglichst bald in dieser Sprache reden und vortragen zu können. Und da ich einen schwer zu überwindenden Abscheu gegen das Lexikon habe, so las ich zunächst — meine eigenen Werke auf spanisch wieder, um mich schleunigst in den Geist der neuen Sprache hineinzuleben. Im nächsten Heft werde ich sicher vielerlei über südamerikanische und spanische Literatur — zur Lektüre anderer werde ich so bald nicht kommen — mitzuteilen haben. Für dieses Mal muss ich unsere Mitglieder bitten, sich mit einer sehr kurzen Bücherschau zu begnügen.
Wirklich gute, d. h. das Wesentliche verstehende Bücher über Südamerika scheint es noch nicht zu geben. Das einzige, von dem ich wüßte, ist The Bridge of San Luis Rey von Thornton Wilder (London, Longmans, Green & Co.), das allerdings eine wunderbare Evokation des Geistes des altspanischen Peru darstellt; dieses Buch empfehle ich jedem, zumal es meines Wissens auch schon deutsch erschienen ist. In nicht-spanischer Sprache kenne ich an überhaupt Lesenswerten sonst nur noch Le chemin de Buenos Aires (La traite des Blanches) von Emile Londres (Paris, Albin Michel). Es bietet in erster Linie eine ebenso geistreiche wie tiefe Psychologie des Zuhältertums. In zweiter zeigt es, inwiefern jeder Versuch, den Handel mit weißen Sklaven (im weitesten Verstand) zu unterbinden, scheitern muss, solang es ein Elend gibt, wie es speziell in Ost-Europa leider noch die Regel und anderweitig keineswegs eine seltene Ausnahme ist. Die meisten der Unglücklichen, die auf diese Art nach Südamerika kommen, haben es als Sklaven
tatsächlich besser, als sie es zu Hause hätten. In Südamerika herrscht, was das außereheliche Leben der Männer betrifft, noch eine Gesinnung, welche Goethe antiker Art sich nähernd
heißen würde. So prachtvoll dort der bodenständige Frauentypus ist — wohl hauptsächlich auf Grund der ursprünglichen Kolonialtradition, die eine frauenlose war, herrscht drüben ein völlig irrationelles Vorurteil zugunsten des Nicht-Legitimen, und zwar nicht etwa im Sinn europäischer Sittenlockerung, sondern der reinlichen Scheidung zwischen dem Sanktuarium der Familie und der Welt der Hetären. Diese nun sind tatsächlich — wie immer man die Tatsache verschleiern möge — in der Mehrzahl der Fälle so oder anders erhandelt. An der obersten Schicht der queridas, der Geliebten, unter denen ich manche der schönsten Frauen, die ich je gesehen, getroffen habe, mag man sich klarmachen, was schönste Sklavinnen im spätantiken Rom und Alexandrien bedeutet haben mögen. — Emile Londres schildert nun freilich die aller unterste Schicht. Und da er, wie mir an Ort und Stelle versichert ward, nur kurze Zeit in Buenos Aires weilte und größtenteils aus divinatorischer Intuition heraus geschrieben hat, so mag vieles Faktische nicht zutreffen. Aber den Sinn
hat er erstaunlich richtig erfasst. Besonders gelungen ist die Darstellung des hohen ethischen Selbstgefühls des typischen Zuhälters. Hier findet man die drastischste Illustration der allgemeingültigen Wahrheit, dass man von affichierter moralischer Gesinnung mit großer Sicherheit auf Verderbtheit schließen darf.
Auf spanische Literatur, Südamerika betreffend, möchte ich dieses Mal noch nicht eingehen. Wirklich Gutes ist mir auch nicht zu Gesicht gekommen. Die einzige mir bekannte synthetische Arbeit über den südamerikanischen Geist ist Nuestra America, von Carlos Octavio Bunge, neu veröffentlicht in der Serie La Cultura Argentina
, Casa Vaccaro, Avenida de Mayo 638, Buenos Aires. Aber die geht erstens von vergangenen Zuständen aus, die freilich den meisten Argentiniern als mythologisches Vorurteil noch heute gegenwärtig sind, zweitens verallgemeinert und vereinfacht sie zu billig. Mittels der zwei Grundkoordinaten tristeza und pereza (Traurigkeit und Trägheit) lässt sich dieser reiche Geist nicht fassen. So will ich heute nur noch ein ganz ausgezeichnetes Werk eines Spaniers empfehlen, weil mich dessen tiefe Erfassung des Spaniertums beim Verstehen seiner kolonialen Filiation besonders gefördert hat: es ist dies Salvador de Madariagas englisch geschriebenes Buch Englishmen, Frenchmen, Spaniards (London 1929, Humphrey Milford & Oxford University Press). Es ist in seiner Art eine Ergänzung meines Spektrum Europas, denn es betrachtet die drei Völker von einem anderen, aber dem meinen nahe verwandten Gesichtspunkt aus. Von Madariagas Kritik Englands und Frankreichs will ich hier nicht handeln. Spanien nun hat er dermaßen tief erfasst, dass er im Ahn gleich die völlig ungleichartigen Enkel mitbestimmt. Mir war das Buch erleuchtend auch vom Gesichtspunkte der Frage aus, woher es kommen mochte, dass ich den ersten unmittelbaren menschlichen Kontakt mit Kollektivitäten in — spanisch sprechenden Ländern gefunden habe; wo doch meine Wurzeln an der Grenze Deutschlands und Russlands liegen. Madariaga schildert den Spanier als Mann der Leidenschaft im ganzen weiten und tiefen Sinn des herrlichen deutschen Worts. Dementsprechend sind seine Grundeigenschaften Natürlichkeit, Spontaneität, Intuition und ausschließlich wertbetonte Subjektivität. Gleiches gilt, mutatis mutandis, von mir. Deswegen war das Erlebnis Südamerikas für mich ein so gewaltiges: dank der Polarisation mit einerseits nahe Verwandtem, andererseits Weltenfernem habe ich mich selber tiefer realisiert als je zuvor. Deshalb hoffe ich, wenn einmal die Früchte dieser letzten Reise gereift sein werden, allgemeinst-menschlich Gültiges sagen zu können.
…Wie dieses Heft gerade in die Druckerei sollte, erfreute mich der siebente Band von Ortega y Gassets Jahrbuch EI Espectador (Madrid 1929, Revista de Occidente). Dieser nun enthält unter den Überschriften La Pampa… Promesas
und El hombre a la defensiva
die erste geistgeborene und auf die Substanz des neuen Menschentypus gerichtete Psychologie des Argentiniers. Nicht alles halte ich für richtig gesehen und gedeutet. Aber vorzüglich hat Ortega zwei Motive der argentinischen Traurigkeit bestimmt (ohne im übrigen letztere zu behandeln): das Leben ohne Gegenwartsbewusstsein und das Leben ohne Aufgabe. Und ebenso trefflich sind seine Reflexionen über den argentinischen Narzissmus: dort leben alle nicht vorstellungsunfähigen Menschen tatsächlich nicht aus der Wirklichkeit des Seins, sondern aus einem imaginierten Selbstbilde heraus, und auf ein solches hin.