Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
18. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1930
Bücherschau · O. Martins, F. Cambó, J. N. Monzó, J. Dantas
Seit Drucklegung des letzten Heftes dieser Mitteilungen bin ich nochweniger zum Lesen gekommen, als vor der Ausgabe jenes; ich war überbeschäftigt mit den Vorbereitungen zur Tagung, meiner Vorträge in Spanien und Portugal und nicht zuletzt mit dem Austragen dessen, was dermaleinst als Südamerikanische Meditationen
das Licht der Welt erblicken wird. So sei auch dieses Mal auf nur ganz wenige Bücher in äußerster Kürze hingewiesen.
Wer immer sich für die iberische Halbinsel interessiert, der lese Oliveira Martins Historia da civilisação iberica (englisch bei der Oxford University Press erschienen) und des gleichen Autors Historia de Portugal. Oliveira Martins ist eine der faszinierendsten Historiker Persönlichkeiten, die mir begegnet: fast rein intuitiv, höchst subjektiv, aber von seltener Tief- und Einsicht. Seine Bücher sollten bald auch in deutscher Sprache erscheinen. Eben jetzt beginnt ja die Entwicklung eines neuen Kulturkreises: des iberischen, von dem als Kontrapunkt zum übermechanisierten nordamerikanischen Wichtigstes zu erwarten ist. Dieser Kulturkreis gehört nicht mehr der Latinität
an, seine letzte Wurzel ist iberisch; es ist ebenso sinnwidrig, dessen Stammbaum weiterzuverfolgen, wie etwa das heutige Deutschland aus dem Paradiese abzuleiten. Die lateinische Ordnung war und ist wesentlich rational; die iberische emotional. Und ihr gehört wohl die nächste bedeutsame historische Zukunft, nachdem die feindlichen Brüder, Nordamerika und Russland, ihre Hauptenergien erschöpft haben werden.
Höchst interessant ist ferner Las Dictaduras (Espasa-Calpe, Madrid) von Don Francisco Cambó, dem Katalonenführer und ersten Wirtschaftler Spaniens, der bald wohl, falls kein Zufall dies verhindert, auch die erste politische Rolle in Spanien spielen dürfte. Cambó gehört zu den schärfsten Intelligenzen, die mir je begegnet. Sein Wesentliches liegt natürlich nicht auf beschaulich-schriftstellerischem Gebiet. Aber da viele in Deutschland mit Diktatur-Plänen liebäugeln, möchte ich doch dringend empfehlen, dieses Werk eines außerordentlichen Geistes, der eine Diktatur erlebt hat, recht bald auch dem deutschen Leserkreise zugänglich zu machen (eine französische Ausgabe ist schon erschienen). Cambó weist in seinem Buche nämlich nach, dass und warum Diktatur bei genügendem Bildungsgrade eines Volkes für die Dauer aussichts- und zukunftslos ist. Er zeigt ferner, dass die sogenannte Krisis der Demokratie nur daran liegt, dass sie ursprünglich auf Eliten oder Notable
eingestellt war; Massenprobleme zu bewältigen, hatte sie ursprünglich nie im Auge. Der Ausweg nun aus dem heutigen Dilemma liegt nach Cambó durchaus nicht in Diktaturen beliebiger Art, sondern im Wachstum zivilen Verantwortungsgefühls. Cambó unterscheidet sehr scharfsinnig zwischen democracia-derecho und democracia-deber und Zeigt, dass der heutige Demokrat typischerweise überhaupt nur noch von Bürger-Rechten, nicht jedoch von Bürger-Pflichten weiß.
Zum Schluss ein Hinweis auf einen argentinischen Religionsphilosophen, Julio Navarro Monzó, der im vergangenen Jahr die vorzüglichen Wiedergaben meiner Vorträge in Buenos Aires für La Nacion redigierte. Ich las vor meiner Abreise nach Portugal zwei Bücher von ihm, El camino de Santitad (Buenos Aires 1928, Editorial mundo nuevo) und Las metafisicas del Christianismo (Verlag Asociacion Christiana de Jovenes, Paseo Colon 161, Buenos Aires). Hier sieht man echtestes Streben nach Vollendung und Heiligung am Werk, von seltener Belesenheit gespeist. Ich glaube, das Wirken dieses Mannes, der meist im Rahmen der Y.M.C.A. arbeitet, kann für Südamerika von größtem Segen sein. Aber freilich ist er persönlich eine recht eigentlich tragische Figur. Im antimetaphysischen und areligiösen Kontinent par excellence als Förderer tieferer und zugleich freierer Religiosität zu arbeiten, muss bei Lebzeiten mit mehr Widerwärtigkeit als Erfolg verknüpft erscheinen.
Noch ein Büchlein habe ich gelesen, das ich früher zu nennen vergaß: La ceia dos Cardeais von Júlio Dantas — das Buch soll auch in deutscher Ausgabe existieren. Dieses Gespräch über die Liebe von knapp 20 Seiten zwischen drei alten Herren, einem spanischen, einem französischen und einem portugiesischen Cardinal gehört zu den Meisterwerken konzentrierter Literatur der Neuzeit. Es interessiert überdies besonders durch die Herausstellung der Eigenart der portugiesischen Abart der Liebe — für den Verfasser natürlich der höchsten, ja der einzig wahren. Es liegt in der Tat eine Wollust der Sehnsucht an sich
darin, die nur eben das unübersetzbare portugiesische Wort Saudade wiedergeben kann.