Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

19. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1931

Bücherschau · Rudolf Kassner, Max Picard

Der Delphin-Verlag, München, hat ungefähr gleichzeitig zwei Bücher über Physiognomik gebracht: Max Picard, Das Menschengesicht, und Rudolf Kassner, Das physiognomische Weltbild. Es ist besonders lehrreich, diese auf einmal zu betrachten, denn selten begegnete ich gleich inkompatiblen Welten.

Vorausgeschickt sei, dass es über alle Maßen schwer ist, über Physiognomik zugleich Richtiges und Gegenständliches zu sagen. Ihr Gebiet liegt jenseits möglicher rationaler Fassung, weil Physiognomie immer gleichzeitig ein Einmalig-Einziges und Allgemeingültiges, ein Eindeutiges und Vieldeutiges, Sagen und Schweigen, Positiv und Negativ, Musik und Bild, Gesicht und Zahl in unauflöslicher Synthese ist. Wer daher Allgemeinverständliches über Physiognomik sagt, wie Lavater oder neuerdings Oswald Spengler, der sagt Falsches oder aber dermaßen Einseitiges, dass er die Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Damit ist physiognomische Wissenschaft grundsätzlich und für immer ausgeschlossen. Schon ihr objektivster Zweig, die Graphologie, ist ein Erkenntnismittel nur für den Berufenen, dem die allgemeinen Regeln nur dazu dienen, Einmalig-Einziges, so wie es für sich ist, zu fassen. Wie soll es da eine Lehre vom Menschenantlitz geben! Hier gehört rationale Unverständlichkeit zur Natur der Sache.

Doch es gibt Menschen, die ebenso unmittelbar ein Gesicht verstehen können, wie dieses unmittelbar für sich ist. Und wie dieses für sich mittels allgemeiner Naturkräfte und Gesetz zustande kommt, so mag der Verstehende ohne Präjudiz seine unmittelbare Schau in Form allgemeiner Regeln äußern. Aber dies setzt immer voraus, dass das einmalige Gesicht des Verstehenden der generellen Deutung vorangehe! Hierin ist Rudolf Kassner einzig. Dass er sein letztes Buch Lehre heißt, ist wohl ein freundliches Zugeständnis an seine Verehrer, denen daran liegt, ihn durch mögliche Klassifizierung Nichtverstehenden zugänglich zu machen. Selbstverständlich handelt es sich um keine Lehre. Rudolf Kassner ist weder Dichter noch Denker; in seiner Jugend hieß er sich selber Musiker in übertragenem Sinn. Das war gut gesagt, insofern in der Musik Form und Inhalt auch begrifflich nicht zu unterscheiden sind. Rudolf Kassner hat die einzigartige Gabe, als Erkennender, als Philosoph im tiefsten Sinn, lebendige Gestalt ebenso unmittelbar zu spiegeln, wie diese unmittelbar da ist. Deshalb ist seine Erkenntnis richtig immer nur in dem Sinn, in welchem einziges Leben einmalig lebt. Sie ist es mitnichten im Sinn der Impression, sondern dem vollgültiger Wesensspiegelung. Ich wüßte nicht, dass hier Kassner einen Vorgänger hätte. Sicher hat er keinen, insofern er schreibt. Seine Schriften haben einerseits zweifellos nur sympathetische Verständlichkeit, um eine Kantsche Wendung zu gebrauchen. Doch das spricht nicht gegen sie. Obiges Urteil besagt nur dies: einzig wer einigermaßen Kassner wesensverwandt ist, kann ihn überhaupt fassen. Und ebensowenig spricht Nicht-Verstehen Kassners gegen die Missverstehenden: man kann Kassner-blind sein, so wie man farbenblind ist. Auch ich gehöre eigentlich zu diesen. Ich kann nicht so sehen und verstehen wie er. Kennte ich Kassner nicht persönlich seit vollen dreißig Jahren, so dass sein fremder Rhythmus mir vertraut ist, ich verstünde kein Wort von ihm.

Kassners Unverständlichkeit gehört sonach zur Natur der Sache. Seine Schriften sind auf übliche Weise nicht nachzudenken, ebensowenig wie Gemälde nachzudenken sind. So, wie er ist, begriffen, gehört er indessen nicht allein zu den tiefsten und stärksten, sondern auch zu den gegenständlichsten und realistischsten Geistern unserer Zeit. Nichts an ihm ist neblicht, unpräzis oder irreal, nichts hineingedeutet, nichts überkonstruiert. Das Gegenteil nun gilt von Max Picard, und nur um dieses lehrreichen Gegensatzes willen berücksichtige ich sein Buch. Zwar habe ich den entschiedenen Eindruck, dass das Menschenantlitz Picard Wesentliches sagt, dass er also insofern Physiognomiker im Sinne Kassners ist. Aber welche Unfähigkeit entsprechenden Ausdrucks! Zunächst einmal ist sein logischer Ausgangspunkt — Gott; von diesem auszugehen, wo Verstehen in Frage steht, bedeutet unter allen Umständen einen üblen Missgriff. Aber Picard hat nicht einmal das erlebnismäßige Recht, den Namen Gottes unnützlich zu führen: sein Buch atmet keinen Hauch echter Religiosität. Hier dient (nicht einmal sicher echte) Sehnsucht nach solcher zu konstruiertem Rahmen. Dementsprechend erscheint denn alles Richtige und Gegenständliche, was Picard sagen könnte, verstellt oder besser verrückt. Keine richtige Anschauung fand ich, die nicht von zweifelhafter Theorie getragen würde. Zu solcher wird hier auch das häufige Vorurteil, dass früher alles besser war als heut. Gewiss hatten die gebundenen Menschen des Mittelalters insofern mehr Physiognomie als die von heute. Doch warum soll der damalige Gemeinschafts-Halt absolut Besseres bedeuten? Wozu den baren Unsinn behaupten, damals hätte ein anderer für einen das Böse oder Gute dar- oder herausstellen können? Letztlich ist Max Picard ein Intellektualist, der sich aus literarischem Ehrgeiz oder Vorurteil verstiegen hat.

Sein Buch ist ebenso unecht, wesen- und bedeutungslos, wie Kassners Bücher wesenhaft, bedeutend und echt sind. Dies sage ich trotz manchen einzelnen Guten und Richtigen, welches Das Menschengesicht enthält. Es ist ein furchtbares Zeichen der Irrealität des deutschen Geists, dass viele bedeutende Menschen — unter diesen ausgerechnet Karl Wolfskehl! — für Picards Buch eingetreten sind, und, wo sie Kassner gelesen, nicht merken, dass dieser erfüllt, wonach jener vergeblich strebt …

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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