Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
1. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1920
Bücherschau · Avalon, Wilhelm, Perzynski, Tagore
An Orientalischem ist mir nicht viel Neues in die Hände gelangt. Das Bedeutendste sind Arthur Avalons vielbändige Übersetzungen aus der indischen Tantra (Ritualphilosophie) (in englischer Sprache, bei Luzac & Co., 46 Great Russell Street, London WC.), die ich zwar nur teilweise gelesen, aber nichts, desto weniger, aus Kenntnis früherer Bände, jedem Erforscher der religiösen Formgestaltung, auch jedem Okkultisten, zum Studium empfehlen möchte. In der Schule der Weisheit sind sie etwa interessierten Mitgliedern zugänglich. Nicht gerade bedeutend, aber erfreulich ist die neue, von indischer Seite erfolgte Darstellung der indischen Religion The worlds eternal religion
, welche die Vereinigung Sri Bharat Dharma Mahamandal in Benares herausgegeben hat. Diese unter dem Protektorat der mächtigsten indischen Fürsten stehende Gemeinschaft macht sich zum Ziel, ein überkonfessionelles Geisteszentrum zu schaffen, das auch dem Weltfrieden dienen soll. Auch nach Deutschland hat es schon seine Fäden gesponnen: eine Reihe von bekannten deutschen Persönlichkeiten ist aufgefordert worden, die Bewegung zu unterstützen, was immerhin für die Zukunft Gutes versprechen kann. — Erfreut hat mich ferner die Menzius, Übersetzung Richard Wilhelms (Jena, Eugen Diederichs). Mögen Buchstaben-Sinologen sagen, was sie wollen: Chinas Geist hat Wilhelm tief, sehr tief erfasst und für ihn einen entsprechenden deutschen Ausdruck gefunden, Was will man mehr? Chinas Ausdrucksweise ist nicht auf unsere Art artikuliert; wer Chinas Gedanken verstehen will, muss sie umdenken, und dies hat Richard Wilhelm mit feinem Verständnis getan. — Aber freilich spricht Chinas Geist am überzeugendsten für uns an seinen Bildwerken. Und zu den ernstesten, metaphysisch tiefsten dieser Werke haben wir einen neuen Zutritt gewonnen durch die wunderbaren Illustrationen in Friedrich Perzynskis monumentalem Werk Von Chinas Göttern
(München 1920, Kurt Wolff Verlag). Der Text ist nicht ganz auf der Höhe; Perzynski versteht es nicht, jene Atmosphäre der Spiritualität in Worten zu evozieren, die dem buddhistischen Altchina vor allem eigentümlich ist, und die Marc Aurel Steins noch so sachliche Beschreibungen so reizvoll macht; er hat den Globetrotterstil, als er schrieb, nicht völlig abgelegt. Allein die Welt, in die er einen einführt, ist so wunder, bar, dass man über ihr die Fehler dessen, der in sie einführt, leicht vergisst, desto leichter, als die Kunstwerke und Landschaften eine beredte Sprache sprechen. Heute, wo die alte Kultur unter dem Ansturm des Bolschewismus zugrunde zu gehen droht, liegt es besonders nahe, sich in eine Welt zu vertiefen, die, heute Wüste, einst Kulturzentrum war. Und zu erwägen, welche Anstrengungen fromme Chinesen einst gemacht, um Meisterwerke vor den Barbaren zu retten. Damals wurden Kolosse in Höhlungen höchster Berge geborgen. Ob unser Höchstes gegebenenfalls ebenso opferfreudige Behüter fände? — Vom Osten zum Westen zurück leitet Rabindranath Tagores Roman Das Heim und die Welt
(Kurt Wolff Verlag). Es ist keine von Tagores guten Sachen; was an diesem Roman bedeutend scheint, geht mehr auf Indiens Tiefe, als auf dessen größten modernen Dichters Gestaltungskraft zurück. Diese ist mehr zart als gewaltig; von Dichtungen abgesehen, hat sie an kurzen Novellen ihren gegebenen Betätigungsrahmen… Ich denke an einen Tag zurück, da ich den Dichter in London in unsere geistliche Musik einzuführen suchte. Mechtilde Lichnowsky sang: Beethoven, Bach. Geschlossenen Auges hörte der Inder zu. Darauf fragte er, ob er uns etwas vorsingen dürfe. Mit näselnder Stimme begann er ein einfach Lied, so einfach, wie allenfalls, Beethovens Vertonung des Liedes an die Freude. Aber diese feine Stimme barg ein ganzes Orchester. Er kannte hundert Arten, den gleichen Ton anzustimmen, wir aber lauschten, ergriffen, dieser Übersetzung der Lehre von der Vielheit in der Einheit in die Sprache der Musik.