Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
20. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1932
Bücherschau · Das Problem des Bösen
In der langen Zeit, seitdem das letzte Heft dieser Mitteilungen erschien, habe ich mancherlei gelesen. Aber es ist mir jetzt nicht möglich, mich mit der erforderlichen Konzentration auf das meiste zurückzubesinnen. Bis vorgestern — dies schreibe ich am 6. April — hatte ich noch am letzten Kapitel der Meditationen
zu tun, und nun muss dieses Heft schnell heraus. So will ich dieses Mal nur kurz dessen gedenken, was in direktem Zusammenhang mit den Problemen dieses Werkes, oder aber mit brennenden Zeitfragen steht.
Da ist zunächst das Problem des Bösen. Im Verlauf der Meditationen
stellt sich wieder und wieder heraus, dass die Unterwelt des Lebens wesentlich das ist, was man auf der Oberwelt böse heißt. Und wo Unterweltliches auf dieser bestimmt, muss die Erscheinung bösen Charakter zeigen. Dies gilt durchaus von den Gebieten des Krieges und der Politik. Vollendetes Missverstehen liegt darin, hier den Nachweis auch nur zu versuchen, dass deren Betätigungen ihren obersten Quell im Geist des Guten hätten. Krieg und Politik sind böse Dinge, oder sie sind nicht. Zur Illustration des in den Kapiteln Ur-Angst
, Schicksal
, Krieg
und Gana
darüber Gesagten empfehle ich eine ganze Reihe von Büchern. An erster Stelle Magnus Hirschfelds monumentale zweibändige Sittengeschichte des Weltkriegs (Leipzig 1930, Verlag für Sexualwissenschaft Schneider & Co.). Die Schriften Magnus Hirschfelds begegnen vielen und mächtigen Vorurteilen. Ich persönlich teile seine allgemeine Weltanschauung durchaus nicht. Aber ich kann mich dem großen Verdienste seiner Aufklärungsarbeit nicht verschließen. Durch Vogelstraußpolitik ist noch niemand weiser geworden, und Illusionen haben das Leben noch nie gebessert, im Gegenteil. Es ist so, dass der Krieg unter anderem die wildesten und grausamsten Leidenschaften entfesselt, dass sich unter anderem das Häßlichste und Höllischeste im Menschen in ihm austobt. So darf gerade der, welcher andrerseits sein Positives sieht, so er kein moralischer Feigling ist, gerade von dem Entsetzlichen nicht absehen. Dann empfehle ich die beiden Bücher von Essad Bey Stalin (Ernst Rowohlt Verlag) und G.P.U. (E. C. Etthofen). Der Bolschewismus ist durchaus teuflischen Geists, und gerade darauf beruht seine ungeheure werbende Kraft. Die allermeisten Staatsmänner handeln wesentlich ebenso wie die Bolschewisten, nur sind sie feiger und verlogener. Und jeder Mensch weiß in seinem tiefsten Inneren, dass das Böse hier sinngemäß ist. Wie war es doch im Weltkrieg? Und wie benehmen sich die Großmächte seither? Mit bestem Gewissen stürzen die Führer wieder und wieder Millionen ins Verderben. Die nach dem Guten strebende Menschheit kann beinahe dankbar dafür sein, dass es ein so Aufrichtiges gibt wie das heutige Russland. Dank dessen Beispiel kann es vielleicht wirklich einmal etwas besser werden, als es bisher war, denn das erkannte und anerkannte Böse tun leichtfertig nicht allzu viele. Insofern empfehle ich die Lektüre eigentlich aller Bücher, welche russische Greuel betreffen. Unter diesen aber sei außer den schon genannten die großartige Schilderung des rot-weißen Bürgerkriegs von Erich Edwin Dwinger Zwischen Weiß und Rot, die russische Tragödie 1919-1920 (Jena 1930, Eugen Diederichs) besonders hervorgehoben. Mit Recht schreibt der Verfasser am Schluss (S. 499):
Wird man erkennen, dass diese Tragödie für Jahrhunderte die Schande der Menschheit bleibt? Dass die Weltgeschichte durch diesen gigantischen Raubzug einen Flecken erhielt, der alle bisherigen übertrifft? Dass man ein Volk von 150 Millionen ins Elend stürzte, nur um des Geldes willen, und keine Stimme seiner Sterbenden jemals ins Herz drang? Dass die Worte Petroleum, Platin, Silber, Gold, Erz den ungeheuren Chor einer Million Sterbender so übertönten, dass niemand auf der Welt ihn hörte?…
Je mehr ich mich in die betreffende Problematik versenke, desto mehr neige ich zur Ansicht, dass nur vollkommenes Sich-Eingestehen des Bösen als eines Bösen zu einer Besserung des Lebens führen kann. Woran alles wieder und wieder scheitert, ist nicht Mangel an Idealismus, sondern Mangel an Mut zur Schau der Wirklichkeit. Dass das Böse selten beabsichtigt wird, ändert wenig, weil eben objektiv Böses im Spiele ist. Wer z. B. Graf Alexander Stenbock-Fermors Deutschland von unten (Stuttgart 1931, J. Engelhorn) liest, kann sich nur wundern, dass die Not nicht die meisten der über alle Begriffe Armen zu blutigen Aufrührern gemacht hat. Und dabei meinen es die nachweislich Schuldigen (insofern sie unter relativ geringen Opfern manches bessern könnten) selten schlecht. Weder Clémenceau noch Poincaré (von geringeren Staatsmännern der Weltkriegszeit zu schweigen), die doch für mehr Unheil die Verantwortung tragen als die schlimmsten Verbrecher, waren böswillig. Unter den Staatsmännern, die ich erlebt, weiß ich außerhalb Russland eigentlich nur von einem, den man böse
heißen könnte, — und eben daher übte er eine so ausgesprochen verführerische Wirkung aus. Das war Fürst Bülow. Ich kannte ihn recht gut und merkte von der ersten Begegnung an, wes Geistes Kind er war. In seinen Memoiren nun hat er sich so offen gezeigt, dass ich beim ersten Durchblättern die Vision eines Leichnams hatte, der sich im Grabe schüttelt vor schadenfrohem Lachen darüber, wie seinen alten Bekannten bei der Lektüre zumute sein wird. In diesem hochbegabten Mann, welcher neben Paléologue (der aber mehr Dichter als getreuer Berichterstatter war) das einzige Memoirenwerk dieser Zeit von dauerndem Wert geschrieben hat, wohnte weniger Güte als in irgendeinem Manne in verantwortlicher Stellung, von dem ich wüßte. Und ich bin überzeugt, dass die Ahnung dieser Tatsache die Hauptschuld trägt am Ruf von Deutschlands Verschlagenheit. Bülow war der einzige bedeutende Mensch der wilhelminischen Ära. So ist es kein Wunder, dass die Welt unwillkürlich von ihm auf alle geschlossen hat.