Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

21. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1932

Komödie und Wahrheit

Katholikentum ist heute weit mehr noch eine physiologische als eine religiöse Angelegenheit. Daher Verständigung zwischen echten, d. h. geborenen Katholiken und ebenso echten Protestanten nicht leichter, sondern schwerer gelingt als in den Tagen der Religionskriege. Damals hatten beide Typen noch eine ganze unterbewusste Welt gemein. Jetzt sind sie bis zur Wesensverschiedenheit auseinander gewachsen.

Dies erklärt, warum ich in der letzten meiner Südamerikanische Meditationen die doch einen urkatholischen Titel führt, das europäische Prototyp als Komödie verstandenen Lebens kaum überhaupt berührt habe. In diesem Buche stelle ich ausschließlich persönlich Erlebtes heraus; nichts bloß Angelesenes und Anempfundenes nimmt da an der Gestaltung teil; wo Bücher mich einmal gefördert oder bereichert hatten, habe ich sie im inneren Verwandlungsprozess vergessen. So fiel mir bei der Niederschrift der letzten Meditation nichts Katholisches ein — denn in mir lebt keine katholische Tradition. Meine im Unbewussten noch lebendige Tradition ist einerseits protestantisch, andrerseits griechisch-orthodox, vor allem wohl letzteres, da in meiner Seele das Russische die Dominante darstellt. So bedeutete es mir denn eine echte Überraschung, da ich im verflossenen Sommer zum erstenmal das schöne Buch von Paul Th. Hoffmann Der mittelalterliche Mensch (Gotha 1922, Friedrich Andreas Perthes) zur Kenntnis nahm und dabei fand, dass dessen Kapitel Göttliche Komödie, wenn auch von anderer Grundeinstellung und von anderen erlebten Voraussetzungen aus, oft mit sehr ähnlichen Worten das als Wesen mittelalterlichen Seins schildert, was ich über Leben als Komödie geäußert habe. So möchte ich denn meine europäischen Leser, zumal die katholischen unter ihnen, eindringlich auf genanntes Buch und die mittelalterliche Tradition. überhaupt hinweisen, so es ihnen nicht ohne weiteres gelingen sollte, die Erkenntnisse der letzten Meditation für sich zu akzeptieren.

Viele Christen wird dieser Vergleich christlicher und viele Katholiken katholischer machen, als sie vorher waren, und ich freue mich des: an den Körper seiner lebendigen Tradition bleibt jeder, der nicht von sich aus Neuerer ist oder eine neue, noch nicht anerkannte Welt ursprünglich vertritt, gerade im Sinn wahrhaftiger Selbstverwirklichung unentrinnbar gebunden. Mich nun hat die Meditation mittelalterlich-katholischen Wesens zum Weiterspinnen mancher Gedanken meines letzten Buches angeregt, und einiges davon möchte ich andeutungsweise jetzt schon mitteilen. Kein Zweifel: das Mittelalter war der Einsicht ins wahre Verhältnis von Geist und Erde sehr nahe, näher wahrscheinlich als irgendeine Zeit vor- und seither. Weswegen musste nun Fortschritt zunächst über diese Welt hinausführen? Wegen des Missverständnisses, das im Erdenleben einen Fall des Menschen sah, was allem nicht Spirituellen den Aspekt des Schuld- und Sündhaften verlieh. Vor allem aber wegen des Vorurteils, dass alle Wirklichkeit vom Geist her und im Rahmen eines geistgeborenen Plans her zu begreifen sei. Dadurch gewann das Problem von Gut und Böse eine von Hause aus schiefe Einstellung. In beiden Fällen handelt es sich um Abirrungen einer einheitsgierigen Vernunft. So konnte Kritik nicht umhin, den herrlichen mittelalterlichen Bau zu zersetzen.

Nur bei einem Beispiel dessen sei hier verweilt, denn nur Anregungen möchte ich hier geben. Woher die entsetzliche Grausamkeit der Höllenstrafen und deren Spiegelung im irdischen Strafvollzug, zumal im Fall der Ketzer? An sich empfand das Mittelalter humaner als die Moderne; ihm galt die Einzelseele viel mehr. Jene Grausamkeit war die logische Folge der Voraussetzung, dass das Irdische sündhaft ist und Strafe genau dasselbe bedeutet in bezug auf die Seele, wie in bezug auf den Körper bittere Arznei und im äußersten Fall chirurgischer Eingriff. So konnte sich die Frage möglicher Milde überhaupt nur in Form der Gnade stellen, die den Sünder wunderbar verwandelt. Wir haben hier das furchtbarste Beispiel dessen, wozu Alleinherrschaft der Logik führt: die Religion der Liebe, gerade sie, war die alleinige Urheberin eben dessen, was der moderne Mensch am meisten verabscheut. Und so führte der gleiche Panlogismus zur Vernichtung der altgermanischen Menschlichkeit im weltlichen Staat. Oft ist dabei verweilt worden, dass erst die Rezeption des römischen Rechtes durch die Staufenkaiser die Folter selbstverständlich gemacht hat: das Wesentliche dabei ist, dass die Antike niemals so bewusst und mit so gutem Gewissen grausam war wie zumal Friedrich II.. Denn dieser hypostasierte die altrömische Idee der Justitia zum weltlichen Ausdruck der absoluten Ordnung Gottes: so konnte der große Staufer im Namen der Justitia wüten, wie dies kein asiatischer Despot und kein südamerikanischer Caudillo je getan hat, denn diese beiden Typen waren nie logisch konsequent. Man lese Kantorowicz’ monumentales Werk Kaiser Friedrich II (Berlin, Georg Bondi Verlag) in diesem Sinn: da kann einem nur grausen vor einem als Komödie verstandenen Dasein, welches blind an dogmatische Voraussetzungen glaubt und von diesen her mit letzter Konsequenz logisch denkt und handelt.

So ist denn klar, inwiefern heute in der Tat eine göttliche Komödie höherer Ordnung möglich ist, als es diejenige des Mittelalters war. Liegt einmal der Akzent geistigen Lebens im Verstehen, dann wird eine Dogmenbildung, die von fiktiven Voraussetzungen her die Wirklichkeit vergewaltigt, immer schwerer möglich werden. In der Region immer tieferen Verstehens ist nämlich wirklich unbedingter Fortschritt denkbar. Doch leider wächst die Gefahr, dass auf die Ära des kritischen Intellektualismus, der als Intellektualismus (im Gegensatz zu echter Spiritualität verstanden) freilich oberflächlich war, zunächst eine auf Un-Geist aufgebaute Komödie folge… Nie war deshalb die Verantwortung derer größer, welche noch wissen, was Geist ist.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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