Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
21. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1932
Bücherschau · Adrien Turel · Eroberung des Jenseits
Alle neuen Gedanken und Sichten treten zuerst, genau wie Lebewesen, in Embryonalform in Erscheinung; ihre Gestalt ist unübersichtlich und vorläufig, und letzteres zwar genau in dem Sinn, wie dies alle Embryonal-Stadien sind: sie werden nicht etwa durch spätere Zustände überholt, sondern letztere entstehen aus der Einschmelzung jener, die insofern naturnotwendig sind. So ist des Thales Lehre, dass alles vom Wasser stamme, zu verstehen; so jede bisherige Theodizee. Im ersten Abschnitt dieser Bücherschau versuchte ich zu zeigen, wie gerade von den Ergebnissen meiner Meditationen her früheren Schrifttümern, welche äußerlich ganz anderes lehren, gerecht zu werden ist. Nun ist ein halb-wissenschaftliches Buch erschienen, das ich durchaus als vielversprechenden Embryo beurteile: Adrien Turels Eroberung des Jenseits (Berlin 1931, Ernst Rowohlt Verlag).
In keiner Weise kann ich für dieses Buch als Ganzes, seine ausgearbeitetsten Teile und seine sozialen und politischen Sonder-Folgerungen eintreten. Die dem Verfasser wahrscheinlich besonders wichtige Theorie des reziproken
Verhältnisses von Individuum und Staat halte ich sogar für grundverfehlt. Nichtsdestoweniger habe ich das Buch zwei Male aufmerksam gelesen, denn es enthält Ansätze von meiner Ansicht nach außerordentlicher Tragweite und Bedeutung. Turel geht davon aus, dass die heutige West-Welt nur von dynamischen Vorgängen und Gesetzen der Dynamik weiß, welche alle, so oder anders, im Entropie-Satz gipfeln; das heißt, sie weiß nur von einer sich unwiederbringlich verbrauchenden Wirklichkeit. Aber es gibt augenscheinlich eine genetische Welt, die rein aufbaut; Prototype dieser sind die Nacht-Zeiten des Lebens, die Embryonalstadien; hier handelt es sich um Zustände, in denen viel mehr geschieht als in der dynamischen Welt, nur in ganz anderer Weise. Die genetische Welt steht nach Turel zur dynamischen unmittelbar reziprok. Der Embryo ist hilflos; noch für das Kind muss alles geschehen. Nichtsdestoweniger verkörpern diese Zustände die schöpferischsten Stadien organischen Lebens. Ebenso sind die schöpferischen Geister wesentlich hilflos, müssen ausgehalten, gehütet werden; die praktische Unfähigkeit gehört mit zu ihrem schöpferischen Wesen. — An diesem einen Punkte zum mindesten hat Turel Wichtigstes tiefer begriffen als irgend jemand vor ihm. Die Psychologie, die Unzulänglichkeit und andrerseits Anspruchsfülle des Künstlers erhält hier zum erstenmal die vollkommen richtige Sinngebung. Der schöpferische Mensch kann nur untüchtig
sein im üblichen Verstand, er muss sich andrerseits für lebenswichtiger halten als alle Tüchtigen. Denn die untüchtige Welt des Embryos, des Kindes; des Künstlers ist die einzige wahrhaft aufbauende. Die tüchtige ist eine Welt der Verausgabung.
Doch weiter. Nach Turel hängt alles, was so oder anders in die Rubrik des Untergangs des Abendlandes
gehört, wie Übermechanisierung, Sterilisierung, Routiniertheit, Initiativemangel, mit der Überbetonung des Abbau-Pols der Wirklichkeit zusammen. Die Fortschrittsideologie sei wesentlich eine Selbstmord-Ideologie. Heil könne nur vom baldigen Antritt einer neuen Phase bestimmender Genetik im Gegensatz zur Dynamik kommen. Hier läge der positive Sinn der jüngsten Revolutionen: sie seien typische embryonale Angelegenheiten, dementsprechend auch von embryonalen
Menschen geführt (Lenin etc., daher deren Häßlichkeit und Unterweltlichkeit!). Es seien aber auch erwachsene Zustände möglich, wo das Genetische prädominierte. Den bisherigen Höhepunkt solcher auf Erden stellten die Termiten, Ameisen und Bienen dar, deren Industrie eine recht eigentlich genetische sei. Der Bienenfleiß
erkläre sich aus der Parallele der Rastlosigkeit und Unermüdlichkeit des Herzens. Das ganze soziale Leben dieser Tiere aber sei Ausdruck plasmagogischen
im Gegensatz zu pädagogischem
Könnens. Die Insekten erziehen nicht fertige Wesen, so gut es geht, sondern sie schaffen die Wesen, welche sie brauchen. — Unter Menschen seien die Chinesen diejenigen, in deren sozialem Leben das genetische Prinzip bisher die größte Rolle gespielt hat. Daher die Langlebigkeit ihrer Kultur. Turel nun sieht in einem Akzentwechsel vom Dynamischen auf das Genetische das eigentliche soziale Menschheitsziel.
Mehr will ich nicht sagen; man lese selbst. Das meiste von Turel Ausgeführte ist ja auch alles eher als einwandfrei. — Zum Abschluss dieses Abschnitts sei, als Kontrapunkt, ein Hinweis auf das beste gemeinverständliche Buch gegeben, das es über das Fertigste in unserer dynamischen Welt gibt, die Physik; das ist A. S. Eddingtons Weltbild der Physik und ein Versuch seiner philosophischen Deutung (Braunschweig 1931, Fr. Vieweg & Sohn), trefflich verdeutscht von Baronin Rausch von Traubenberg, der Gattin des bekannten Kieler Physikers, der übrigens auch unser Mitglied ist. Es ist das klarste Buch, das ich überhaupt kenne, insofern es so Schwerstverständliches, wie es die letzten Erkenntnisse von Planck, Einstein usw. alle sind, wirklich verständlich macht. Jeder, der das Weltbild der modernen Physik verstehen will, muss dieses Buch lesen. Und jeder muss dieses Weltbild in sich aufnehmen, denn sonst versteht er das moderne Leben nicht, das unbewusst immer mehr von ihm geformt wird. Im Zusammenhang mit den Meditationen nun möchte ich besonders auf Eddingtons Prinzip der Unbestimmtheit
hinweisen, das den klassischen Determinismus zu Grabe trägt.