Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
23. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1934
Bücherschau · Freiheit
Wie kommt es, dass das nordische und abendländische Ur-Ideal der Freiheit im Lauf des letzten Jahrhunderts fortschreitend nicht Wirklichkeits-steigernd, sondern -verderbend gewirkt hat?1 Denn ohne dass dem so wäre, bliebe die Anti-Freiheitlichkeit des Zeitgeists trotz allem Ausgeführten unverständlich. Nun, dies hat nichts, aber auch gar nichts mit der Freiheit an sich zu tun. Es kommt daher, dass fortschreitend mehr Menschen solcher Art in die Geschichte einzugreifen begannen, und diese zuletzt bestimmten, welche nicht reif zu der Freiheit waren, auf welche ihnen verbrieftes Recht zuteil geworden war. Heute wird vielfach prinzipiell, so besonders im faszistischen Italien, dem Ideal der Freiheit das der Verantwortung als ein höheres entgegengestellt: keinem echten Vertreter der großen europäischen Tradition fiel es je ein, die Ideen von Freiheit und Verantwortung zu dissoziieren; selbstverständlich setzte die eine die andere. Gleiches galt von individueller Freiheit und Pflicht der Gemeinschaft gegenüber. Uralte Tradition, die durch das Christentum bis zur Stoa und durch die Rassenerinnerung in anderer Richtung bis zu nordischem Heldenethos zurückreichte, hatte das Unbewusste der Oberschichten zu tief gebildet, dass diese deshalb zuletzt dahin gelangten, den extremen Freiheitsbegriff der letzten Jahrhunderte aus sich herauszustellen. Doch die Tragik des Menschenschicksals wollte es dieses wie leider die meisten Male, dass der Höhepunkt in einer Hinsicht mit einem Ende und einem unvorhergesehenen Anfang ganz von vorn zusammenfiel. Nicht nur ward das, wozu nur wenige innerlich berechtigt waren, auf viel zu viele ausgedehnt, die sich nun gegen die Urheber des Fortschritts wandten: die Oberschichten verloren selbst das Recht auf jene Freiheit, sei es, dass sie sich schon vital verausgabt hatten, oder dass das Unbewusste der Unterschichten in sie eindrang, so wie das der Neger in das Unbewusste der weißen Nordamerikaner. Vor allem aber gab es bald, beinahe plötzlich, so ungeheuer viel mehr Menschen, welche sich selbst bestimmen wollten, ohne dazu fähig zu sein, als je vorausgesehen worden war, dass sich daraus bald eine Situation ergab, welche die geltenden Vorurteile Lügen strafte.
Zur Zeit Goethes zählten in Deutschland kaum über fünftausend Menschen; gestern taten es alle erwachsenen Millionen, heute tun es schon die Kinder, die das öffentliche Leben in schwer zu überschätzendem Grade mitbestimmen. Hier setzte eine andere Kausalreihe ein, die mit dem Freiheitsproblem insofern zusammenhängt, als die Befreiung des Erkenntnistriebes sie ermöglicht hatte: der Siegeszug der Technik, der soviel Menschen Lebensmöglichkeiten schuf, dass sich die Einwohnerzahl Europas schier sprunghaft verzehnfachte. Dies ergab denn jene Völkerwanderung in der Vertikale, welche ein viel Gewaltigeres ist, als alle Völkerwanderungen in der Horizontale, die bisher stattgefunden haben — jene Völkerwanderung, die eine Überschichtung aller Völker nicht von außen, sondern von unten her bedeutet, die das Hauptmerkmal dieses ganzen Zeitalters ist und seit dem Weltkrieg, unter dem Banner von Wilsons Idealen, über den ganzen Planeten übergegriffen hat. Von den heute lebenden Menschen hat höchstens einer unter Zehn-, ja Hunderttausenden das psychische Erbe, die alle Freiheitslehren als reale Basis selbstverständlich voraussetzten. Der Fall liegt sehr viel ernster noch als dazumal, da die letzten gebildeten Römer sprachlos, in stummer Trauer, ihr Weltreich sterben sahen. Daher deren Stoizismus. Der Erschütterung ihrer Welt durch neue fremde Bewegtheit wussten sie zuletzt, als Statiker, die sie im Grunde waren, nur innere Unerschütterlichkeit entgegenzusetzen. Schon der ältere Cato dürfte den von den Volkstribunen vertretenen Volksschichten gegenüber ähnlich empfunden haben, wie Bismarck gegenüber den Sozialdemokraten. Der jüngere Cato stand zu Caesar schon sehr ähnlich, wie Frankreich zum verjüngten Deutschland. Marc Aurel schließlich, resigniert, nahm seine Selbstgespräche sicher ernster als sein Regieren. Was dazumal im relativ sehr Kleinen geschah, ist heute planetarisch Geschichts-bestimmend geworden. Die Ideale, welche das liberalistische Zeitalter vertrat, waren auf psychologisch andere Menschen zugeschnitten, als die, welche dann aus ihrer rechtlichen Verkörperung Vorteil ziehen konnten.
Wie sehr dieser erb-psychologische Unterschied entscheidet, wie sehr die Tradition im weitesten Verstande das bedeutet, was man im heutigen Deutschland durch Blut erklärt, erläutern am besten zwei Vergleiche, welche jeder nachprüfen mag: der psychologische Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland, und zwischen dem Deutschland, das auf Karl den Großen zurückgeht, und Preußen. Ersteren Unterschied will ich an der Hand der Schriften Ernest Seillières beleuchten, weil kein anderer Franzose sämtliche Erscheinungen des Deutschtums seit zweihundert Jahren so vollständig, so verstehen-wollend, und dabei von so rein französischen Voraussetzungen aus behandelt hat wie er2. Für Seillière ist das normale Europa das in der Antike verwurzelte, in der stoisch-christlichen Tradition gebildete, das seinen Höhepunkt in den klassizistischen französisch bestimmten Jahrhunderten erreichte. In alle dem, was er Naturismus oder Romantik heißt, was in England zuerst geistbewusst wurde, in Rousseau vollkommen erwachte, doch erst in der deutschen Welt geschichtsbestimmend ward, sieht Seillière einen bedauerlichen Abweg oder Fall. Doch er tut dies nicht etwa als Rationalist, so wie der Deutsche sich ihn vorstellt: für Seillière ist die raisen nichts anderes als die geklärte und zu frei verfügbarem Besitz gewordene Rassenerfahrung, die eben im Abendland von der Antike über das mittelalterliche Christentum bis zum Klassizismus reicht. Planetarisch beurteilt, ist Seillières Gesichtspunkt ein verstiegener: die klassische Tradition, in ererbter raisen verdichtet, ist einzigartige Ausnahme, nicht Regel. Will man durchaus den Begriff der Romantik beibehalten, dann ist der Mensch an sich
Romantiker, d. h. ein aus der Natur herausgewachsenes Wesen, nur allerdings kein von Natur aus gutes, wie dies der abendländische Naturismus
leider lange wähnte und wie er es, in neuer Abwandlung, heute wieder wähnt. Dieser Wahn ist eine der Hauptursachen jenes Ausbruchs der Unterwelt, welche seit dem Weltkrieg das Antlitz der Erde bestimmt.
Sehen wir nun aber von der verfehlten oder schiefen allgemeinen Perspektive ab und gehen wir von der unbezweifelbaren Tatsache des raison-Erbes in Seillières Verstande aus, welche die abendländische Geschichte bis zur Weltrevolution bestimmt hat, dann gewinnt das Problem einen anderen Aspekt; dann hat Seillière recht, wenn er von einer Untergrabung und schließlich Entwurzelung aller europäischen Tradition durch das redet, was er Romantik heißt; denn auch die Französische Revolution ist für ihn zur Hälfte romantischen Charakters; sie war es genau soweit und so lange, als sie vom natürlichen Menschen
ausging. Zweifelsohne ist der Prozess, der mit der heutigen Revolte der Erdkräfte, in Europa wenigstens, seinen Höhepunkt erreicht haben dürfte, im wesentlichen ein Abbau der überkommenen antik-christlichen spirituellen und moralischen Bindungen, welcher Abbau jüngerer Tradition durchaus folgerichtig die allerälteste neu bewusst macht, denn er legt sie frei. Daher das rückwärtsgewandte Ideal des mythischen im Gegensatz zum fortschrittlichen Menschen. Die Tradition nun, welche nicht allein Seillière, welche ganz Frankreich als die europäische Tradition schlechthin empfindet, kam, abstrakt gefasst, einer fortschreitenden Verkörperung des spirituellen Prinzips, welches in diesem Zusammenhang in erster Linie den Aspekt der Freiheit hat, in den Instinkten, Gefühlen, Empfindungen, Impulsen, Gewohnheiten und Lebensformen gleich. Enger, aber ebendeshalb präzis-konkreter ausgedrückt: im Höchstfall war der Stoiker selbstverständlich unerschütterlich, der Christ selbstverständlich von der Freiheit zum Guten bestimmt, der honnête homme, zuletzt der homme de bonne compagnie Vertreter einer Beherrschtheit durch den Geist, der sich in der Anmut der Oberfläche ausprägte und damit den Höchstausdruck bisheriger europäischer Kultur darstellte. Der ganze Freiheitsbegriff, welcher die letzten Jahrzehnte vor dem Weltkriege bestimmt hat, war seinem gesamten Sinne nach auf diesen disziplinierten Kulturtypus klassisch-christlicher Tradition bezogen. In ihm bildeten innere Freiheit und äußere Verpflichtung, Selbstbewusstsein und Gemeinschaftsaufgabe, Verantwortung und Haltung eine unauflösliche Synthese. In diesem Sinne charakterisierten den guten Europäer französischer Prägung, nach Seillière, das selbstverständliche Zusammenbestehen
d’héroïsme aristocratique, d’honneur, de politesse, de galanterie, de noblesse d’esprit
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Dieser Typus war innerlich so frei, als ein Europäer jemals gewesen ist. Andererseits stand er innerlich jenseits und oberhalb aller der Antithesen, welche die verschiedenen Ideologien der Weltrevolution beherrschen. Doch jetzt erst gelangen wir zu dem, weswegen ich das Beispiel Frankreichs heranzog: drüben hatte die uralte Tradition sämtliche Schichten der Bevölkerung so tief durchdrungen und so fest geformt, dass das Aussterben oder das Abtreten von der historischen Bühne der alten Geschlechter, sowie das Überhandnehmen und Bedeutsamwerden von Typen geringerer Tradition das Bild nicht wesentlich veränderte; es fand nicht das statt, was am Ausgang der Antike geschah, da die Sklavenseele die der römischen Herren besetzte, oder in Nordamerika, wo das Unbewusste des Negers das des Weißen verdrängt: im Gegenteil, die Unterschichten blieben vom Geist der oberen besessen. Daher das Festhalten Frankreichs, durch alle Krisen hindurch, am individualistischen Freiheitsideal, sein besonderer Sinn für Harmonie, seine besondere Haltung, sein Durchhalten (tenue, tenir) überhaupt. Die Französische Revolution war vom natürlichen Menschen
ausgegangen, doch die antik-christliche Erbmasse war jenseits des Rheins dermaßen stark, dass bald eine Restauration des alten Zustands auf neuer verbreiterter Basis statthatte. Dass Napoleon einem antiken Imperator ähnelte, ist im gleichen Sinne symptomatisch, wie dass Stalin sich immer mehr dem Typus jener Tataren-Khane angleicht, welche Russland vom 13. bis 16. Jahrhundert beherrscht haben.
Von hier aus nun können wir besser als aus irgendeinem anderen Gesichtswinkel die neudeutsche Problematik verstehen, soweit sie dem Zusammenhange dieses Kapitels angehört. Alle namhaften Vertreter der deutschen Oberschichten waren noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im großen und ganzen Träger der gleichen europäischen Tradition wie die Franzosen. Freilich waren sie anders, weil sie eben Deutsche waren. Wohl hatte schon die Reformation die Wurzeln dieser Tradition in erheblichem Grade gelockert und geschwächt, und damit nur-Deutschem oder nur-Nordischem in der deutschen Seele zu größerem und seither stetig wachsendem Übergewicht verholfen. (Im gleichen Verstand wird Frankreich fortschreitend lateinischer, proportional dem Bedeutungsverlust der Oberschichten fränkischen Bluts.) Doch wie sehr das klassische Ideal im römischen Verstand noch heute im Bewusstsein aller Volksschichten lebendig ist, beweisen gerade jüngste Erscheinungen: die tiefe Wirkung der an sich bizarren Gestalt des ausgemendelten Römers Stefan George; die Beziehung von Ludwig Klages, dem Übersteigerer aller deutschen Romantik, zu Alfred Schuler, welcher sich selbst als Reinkarnation eines alten Römers ansah, und im Großen das Werbende des antiken Gedankens in seiner faszistischen Wiedergeburt.
Orientierte sich der deutsche Geist, solange die europäische Tradition ihn noch selbstverständlich beseelte, vornehmlich am hellenischen Ideal, weil auch die Griechen gleich ihm mehr erlebten, dachten und schufen, als ein Sein darstellten, so übertrug er das Ideal später instinktiv desto ausdrücklicher auf den Römer, dessen ganze Größe eben im Sein lag. Doch die Mehrzahl der Deutschen war schon lange nicht mehr wirklich der alten Tradition innerlich teilhaftig. Daher das Vorherrschen des deutschen Bildungsideals, welchem Wissen mehr bedeutet als Sein. Daher die groteske Verehrung, welche der Gelehrte seit der Reformation genoß, daher sogar das klassische Ideal der Klassikerzeit; daher endlich die Hochschätzung, welche alle Volksschichten in Deutschland instinktiv dem sogenannten Akademiker
zollen — eine Wertung, die so leicht nicht auszurotten sein dürfte. Die Außenwelt erkannte seit der Reformation mit sicherem Gefühl eigentlich nur zwei deutsche Typen als repräsentativ an: die Fürsten und die Professoren. Jene, weil sie noch am meisten vom alten Europa-Geist verkörperten; diese, weil sie am meisten von ihm wussten. Aber in so unsicherer, ja eigentlich künstlicher Verfassung konnte Deutschland unmöglich sehr lange seine beste Form erkennen. Daher denn der Aufstieg Preußens einerseits, und andererseits die Absonderung Österreichs, wo spanischer Einfluss die Herrschaft der alten Tradition eben dann restaurierte und neubelebte, als sie im Kern-Reich zu verwittern begann. Uns nun geht hier einzig Preußen an. Keiner versteht das erste Wort vom Preußentum, das in Friedrich dem Großen, welcher Preußens Geist zu einem Weltfaktor erhob (was vorher dort geschah, war Provinzangelegenheit, die ebensogut eine solche hätte bleiben können), nicht in erster Linie den vollendeten Repräsentanten des französischen 18. Jahrhunderts sieht, den ganz großen Europäer. Aber eben weil er gerade dieses war, erkannte Friedrich, dass seine Untertanen keine Europäer mehr waren, und ihrer überwältigenden Mehrheit nach ein wenn nicht blutsmäßig slavisches, so doch im Unbewussten von der slavischen Urbevölkerung Besessenes darstellte. So erwuchs aus seiner Meisterhand oder an seinem Vorbild jener herbe Stil, welcher einerseits hoch durchgeistigt war, andererseits eine Formung von außen nach innen, und nicht umgekehrt (wie dies der Seinsgrund des klassischen Europäers war), voraussetzte…
1 | Dieser Abschnitt ist ein Fragment aus dem Kapitel Freiheitdes Buchs vom persönlichen Leben. |
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2 | Es ist schwer, ein besonderes Buch Ernest Seillières zu empfehlen, weil er seit dreißig Jahren mehr als eines im Jahre schreibt, immer über das gleiche Grundthema, und weil kein mir bekanntes von ihm seine Erkenntnisse verdichtet darstellt. So empfehle ich die, welche ich selber zuletzt las: seine Psychologie du romantisme français, Psychologie du romantisme allemand (éditions de la Nouvelle Revue critique) und sein Buch über Ludwig Klages De la Déesse Nature à la Déesse Vie (Alcan). Am wenigsten wird der Leser aus seinem Buch Über den Schreiber dieser Zeilen (La sagesse de Darmstadt) lernen, weil er auch diesen als Romantiker sieht — ein Irrtum, welchen Seillière übrigens seither eingesehen und in späteren Veröffentlichungen implicite richtiggestellt hat. |