Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
1. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1920
Bücherschau · Silvio Gesell — Natürlicher Wirtschaftsordnung
Hiermit komme ich denn auf die Literatur zur Sozialreform. Wer den Eingangsaufsatz zum Leuchter (Worauf es ankommt
)1 gelesen hat, der weiß, wie wenig ich von Programmen als solchen halte; nur als Abstraktionen aus einem ihnen entsprechenden lebendigen Zustand oder als intellektuelle Vorwegnahmen eines solchen haben sie Wert. Aber gerade wer eingesehen hat, dass es in erster Linie auf den Menschen ankommt, dass nur der höchstgebildete Mensch den bestdenkbaren Zustand verträgt, kann aus der Reformliteratur viel Belehrung schöpfen. Die Ideen, welche die Zeit bewegen, gehen unter allen Umständen irgendwie in die lebendige Endsynthese ein; in diesem Sinne schrieb ich in der Mission
, dass das neue Zeitalter sozialistischen Charakter tragen werde, trotz der Undurchführbarkeit aller sozialistischen Parteiprogramme, genau wie die westliche Menschheit, ohne im wesentlichen besser zu werden, sich seit Konstantin dem Großen christlich nennen durfte. Welche der heutigen Richtungen hat nun am meisten Zukunft? Dies ist schwer vorauszusehen, denn hier spielen reine Machtfragen mit. Aber anzunehmen ist, dass alle dem Sinn der Sache gemäße an der Welt von morgen mitgestalten werden. Die Wirtschaftsorganisation der allernächsten Zukunft, die zwischen alten Mitteln und neuem Geist zu vermitteln hat, wird Walther Rathenau manche entscheidende Anregung danken: die Bedeutung dieses Mannes beruht überhaupt auf seiner Grenzstellung zwischen Metaphysik und Technik — er stellt gleichsam einen geistigen Übertragungsmechanismus dar. Mag in Geldfragen Gewohnheit und Tradition eine noch so wichtige Rolle spielen — es wird sich doch schließlich herausstellen, dass Silvio Gesells Begriff vom Wesen des Geldes sinngemäßer ist als der heute herrschende, und die Praxis wird mit der Theorie zuletzt einen Kompromiss eingehen. Deshalb halte ich die Lektüre von Gesells Natürlicher Wirtschaftsordnung
(Freiland-Freigeld-Verlag, Rehbrücke bei Berlin) für förderlich. Gleiches behaupte ich auch von Rudolf Steiners Kernpunkten der sozialen Frage, soviel an ihnen auszusetzen sei, denn eine beträchtliche Dosis Wahrheit enthalten sie doch. Als Korrektur seitens eines grimmigen Pessimisten wird vielen allzu hoffnungsvoll Gesinnten das Buch Entvölkerung oder Barbarei
von Wilhelm Doms zu verordnen sein, denn es ist wahr: jede soziale Harmonie wird durch Bevölkerungswachstum schließlich gesprengt. Am meisten Zukunftsschau von allen, die über den Bolschewismus geschrieben haben, beweist Harald von Hoerschelmann in seiner Broschüre, Person und Gemeinschaft
(Jena, Eugen Diederichs): diese hat wirklich durch den Buchstaben hindurch den Geist erfasst. Doch genug der Bücherhinweise. Ich wollte auch hier nur zeigen, in welchem Geist man lesen soll. Will man gefördert werden, so lasse man auch beim Studium sozialpolitischer Schriften zunächst die Frage, wieweit ihr Inhalt den Tatsachen gerecht wird. Gar oft schon ist das Falsche zur Macht geworden. Die Menschen gehen oft lieber in den Tod, als dass sie von einer Wahnvorstellung lassen. Deshalb suche man bei aller Theorie zunächst das Verhältnis zu erfühlen, in dem sie zu den lebendigen Kräften der Gegenwart und möglichen Zukunft steht. Und begreife ferner, dass eben das tatsächlich die Erfüllung eines Strebens bedeuten kann, was den Buchstabenglauben, dem es zunächst diente, widerlegt. Das Reformstreben dieser Zeit, das heute unter dem Banner Sozialisierung des Kapitals
wirkt, wird höchstwahrscheinlich unter dem der Kapitalisierung der Arbeit
, wie ein Nationalökonom jüngst sagte, siegen. Der Demokratismus dieser Zeit wird sicher in extremer Aristokratisierung ausklingen, und doch wird die scheinbare Widerlegung eine Erfüllung des Urimpulses bedeuten.
1 | Der Leuchter, Weltanschauung und Lebensgestaltung. Jahrbuch der Schule der Weisheit, herausgegeben vom Grafen Hermann Keyserling. II. Buch 1920 Otto Reichl Verlag in Darmstadt. |
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