Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

24. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1935

Bücherschau · Urphänomen der Renaissance

War das Erwachen des Estenvolkes zu bewusstem Volkstum, das ich im Spektrum Europas geschildert habe, eins der Erlebnisse, die mich in meinem Verstehen der Kollektiv-Psychologie am meisten gefördert haben, so gilt kaum Geringeres von der katalanischen Renaissance, an der ich bereits seit 1930, soweit dies einem Ausländer möglich ist, teilhabe, in welche ich mich aber erst im Winter 1934/35 ganz habe hineinleben können. Wie kann es überhaupt Völkerwiedergeburt geben? Von der Biologie her geurteilt, sollte es sie, so scheint es dem ersten Blicke, gar nicht geben können. Volkstum ist nichts Ewiges, nichts von sich aus Schöpferisches, nichts Metaphysisches, sogar nichts Ursprüngliches: es ist nie anderes als das Ergebnis des Zusammenwirkens ursprünglicher biologischer Ähnlichkeit, von Geschichts- und Schicksalsgemeinschaft, der Suggestion von Seele auf Seele in beschränktem Raum und der Rückwirkung geistiger Herausstellungen; deswegen vergeht sein gegebenes Sosein automatisch, wenn auch nur einer dieser Grundfaktoren sich erheblich ändert. Die Rassen verwandeln sich, noch so langsam, von Geschlecht zu Geschlecht. Was aber die Möglichkeit einer Neuausmendelung vergangener Typen betrifft, so ist kein Volkstum als solches ein Gen: als Gene dürfen allenfalls — denn auch dies ist nicht gewiss — in ferner Vorzeit fixierte Grundtypen aufgefasst werden, wie es die Europiden, die Mongoloiden und die Negroiden sind. Volkstum ist ein Kulturgebilde im weiten Frobeniusschen Verstand — Kulturgebilde aber sind ebenso wesentlich endlich, wie lebendige Individuen, und ebensowenig wie in letzterem Fall gibt es im ersteren auf Erden Auferstehung von Fleisch. Niemals ist Volkstum von sich aus kulturschöpferisch im Sinne geistig verstandener Kultur; dies beweist allein schon die Unzahl von Volkstümern, die als solche nie eine Eigenkultur hervorgebracht haben. Man gedenke nur der uralten und so volksechten Basken. Kultur ist allemal, wie dies Frobenius und Spengler richtig erkannt haben, ein dem Volkstum gegenüber Selbständiges. — Nun gibt es trotzdem, wenn auch als seltene Ausnahmeerscheinung, Renaissancen. Dies erklärt sich daraus, dass es sich hier überhaupt um kein biologisches und auch kein kulturelles Phänomen im eigentlichen Verstande handelt, sondern um ein geistiges.

Das Urphänomen der Renaissance ist deswegen nicht die Wiedergeburt von Altem, auf gleichem Boden und aus gleichem Blut heraus, die es in wörtlichem Verstande überhaupt nicht gibt, sondern die Rezeption geistiger Ganzheiten durch fremde Völker; ich sage Ganzheiten, denn nur organisch zusammenhängende Einheiten prägen sich aus oder auf, bloße Elemente verlieren im Assimilationsprozesse ihren Eigencharakter. Die Rezeption von Christentum und Buddhismus durch Völker, welche nichts, weder biologisch noch auch kulturell, mit denen, innerhalb welcher diese Religionen entstanden, gemein hatten, die Rezeption des römischen Rechts durch die Germanen oder der englischen und französischen politischen Lebensformen durch völlig andersgeartete Völker — sie und nicht die italienische Renaissance stellen die Grundbeispiele dar jedweder Renaissance. Von hier aus leuchtet denn, im Gegensatz zu allen geltenden Vorurteilen, ein weiteres ein: warum Wiedergeburt von Vergangenem auf gleichem Boden und aus gleichem Blut nicht die Regel, sondern die allerseltenste aller Ausnahmen darstellt: grundsätzlich muss es viel leichter sein, völlig neuen Geist in die eigene Seele hineinzubeziehen, als den Geist großer Vorfahren neuzubeleben, denn gelänge letzteres ganz, dann verlören die Enkel damit ihre Identität, und dagegen sträuben sich selbstverständlich alle Elementartriebe. Hier liegt die große Schwierigkeit für die Entstehung einer neu-griechischen Kultur. Die Wucht und Last vergangener Größe, im Unbewussten fortwirkend, ist in Hellas so gewaltig, dass sie, ins neue Leben hineinbezogen, dieses erdrücken würde. So können sich die Neugriechen nicht auf mit uns Nordländern ebenbürtige Weise auf die Renaissance der Antike in der europäischen Kultur zurückbeziehen. Tun sie es, so verlieren sie damit, wie tausend Beispiele zeigen, ihre Individualität; sie werden mehr oder weniger zu unechten Franzosen. Wollen sie echt bleiben, so müssen sie an dem allein anknüpfen, wozu die antike Kultur sich bei ihnen fortentwickelt hat; das aber ist die Welt jenes sehr engen, in kleinstem Kreise heimischen, recht eigentlich heimlichen Hellenismus, der sich durch die Türkenherrschaft, die alle Geistesbildung und -fortbildung ein halbes Jahrtausend lang beinahe unmöglich machte, hindurchgehalten hat. Daher das extreme Haften gerade der zukunftsträchtigsten Neohellenen einerseits an lokalem Brauchtum, andererseits und vor allem an der Kirche, die für die Griechen die letzte Erbform nationaler Geistigkeit darstellte1.

Wenn dem nun also ist, was bedeutet die italienische Renaissance? Sie bedeutet ganz anderes als das, wofür sie gemeiniglich gehalten wird. Sie bedeutet an erster Stelle die Rezeption eines Teiles der antiken Ganzheit durch ein ebenso fremdes Volk, wie dies die Franzosen und Deutschen den Griechen und Römern gegenüber waren. Sie bedeutet an zweiter Stelle eine Konvergenzerscheinung: innerhalb des christlichen Kosmos, in welchem von Anbeginn an sehr viele antik-heidnische Elemente fortlebten, trat zu bestimmter Zeit auf Grund der die Seele beherrschenden Kompensationsgesetze eine Verlagerung des Bedeutungsakzentes auf die heidnischen Komponenten ein, so dass vom christlichen Lebensgefühle her ewig-Heidnisches neu bestimmend ward. Dieses fand zuerst in übernommener antiker Formsprache angemessenen Ausdruck. Doch wie wenig die letztere Italienern wirklich entsprach, beweist die Kürze der wirklich antikisierenden Renaissance-Periode; sie war kürzer noch als die des wirklich an der neuentdeckten Antike orientierten deutschen Klassizismus. Sehr bald beherrschte die Renaissance echt und rein italienischer Geist. Erst an dritter Stelle, an dieser aber allerdings, kann von einer Wiedergeburt im üblichen Verstand die Rede sein. Dank einem Zeitgeiste, welcher die positiven Werte des Heidentums erneut in den Vordergrund des Bewusstseins beschwor, konnten die seelischen Verkörperungen antiken Geists, die im kollektiven Unbewussten unverändert fortlebten und ihre Vitalität nicht eingebüßt hatten, erneut wenn nicht zu Dominanten, so doch in höherem Grade mitbestimmend werden. Solche positiven Werte der Vergangenheit leben in allem kollektiven Unbewussten fort, das nicht durch Unstetigkeitsmomente in der Entwicklung von weiterer Vergangenheit abgeschnitten ward, und solche können, falls sie der Zeitgeist fördert, in allen Fällen neu bewusst werden; genau in diesem und nur in diesem Sinne erwachen heute in Deutschland alt-nordische Werte zu neuem Leben. Von hier aus nun erscheint klar, in welcher Beziehung Kultur und Volkstum im hier betrachteten Zusammenhang zueinander stehen: nur insofern psychophysische Erbanlage bestimmten Geistesinhalten besonders angemessene Ausdrucksgelegenheit bietet, kann Volkstum scheinbar wiedergeboren werden. Aber die Wiedergeburt von Volkstum als solchem ist immer nur ein Schein: was vielleicht wiedergeboren wird, was einzig wiedergeboren werden kann, ist Kultur, und die ist von Volkstum immer grundsätzlich unabhängig; sie ist sogar von der Landschaft grundsätzlich unabhängig, so sehr der Anschein oft dagegen spricht: denn hat gegebene Kultur allerdings jeweils an bestimmter Landschaft ihre normale Umwelt, so dass Bekehrung (s. den nächsten Satz) fast immer mit Zuwendung zu bestimmter neuer Landschaft zusammengeht, so besteht doch nie ein notwendiger Zusammenhang. Dies beweist allein schon die Folge völlig verschiedener Kulturen oder Unkulturen in gleichem Raume sowie die Möglichkeit, Kulturgebilde von der Heimat loszulösen; man denke an die Juden, die Griechen und zuletzt die puritanischen Engländer. Deswegen ist Prototyp der Renaissance nicht die blutsmäßig vermittelte Tradition, sondern die mögliche Bekehrung zu einem Geisttum, das in seiner Verbindung mit Seelentum und Leiblichkeit zuletzt ein neues, älterem mehr oder weniger ähnliches Volkstum erschafft, welche Bekehrung jeweils durch die prästabilierte Sympathie bestimmter Geisteseigenart zu bestimmten seelischen Ausdrucksmitteln nahegelegt wird. In diesem Sinne bekehrte sich Houston Stewart Chamberlain nicht als nordischer Mensch zum Deutschtum, sondern als bestimmtgearteter individueller Geist, welchem das Medium seines angeborenen Britentums nicht entsprach. — Was nun erhält aus der Sichtbarkeit entschwundene Lebensform am ehesten lebendig? Bedrückung und Verfolgung. Insofern sich der Hellenismus als Byzantinertum und Kirchentradition bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Türken ohne Unstetigkeitsmoment lebendig fortentwickeln konnte, veränderte er sich fortlaufend als Ganzheit und verausgabte damit seine Reserven. Innerhalb der lateinischen Welt setzten Bedrückung und Verfolgung schon mit der Völkerwanderung ein. Deswegen konnte in Italien mit der Renaissance eine lebendige Verknüpfung sehr alter mit ganz jungen Seelenelementen stattfinden. Daher in unseren Tagen die Möglichkeit einer katalanischen Renaissance.

Letztere nun bedeutet zur Erkenntnis des Sinnes möglicher Völkerwiedergeburt ein viel Lehrreicheres noch als jene2. Setzt man alle Akzente richtig, dann bedeutet die letztere weit weniger eine Renaissance der Antike als die Geburt einer vorher überhaupt nicht vorhandenen original-italienischen Kultur. In der Antike gab es nur eine dem Geiste nach völlig un-italienische sozial-politische römische Kultur; wie un-italienisch sie war, erhellt allein schon daraus, dass sich, sobald die in den großen römischen Familien fortlebende spezifisch-römische Tradition abbrach, als deren echteste Vertreter nicht Italiener, sondern — Spanier erwiesen; und es gibt kaum einen größeren Gegensatz auf Erden als den zwischen Italiener- und Spaniertum. Und in gleichem Sinne sind heute die Engländer und nicht etwa die faschistischen Italiener den alten Römern am verwandtesten. Das politische Engländertum ist, worüber sich wenige klar zu sein scheinen, durch normannische Formung des britisch-nordischen Völkergemischs entstanden, und die Normannen jener Zeit waren, obschon noch ihre Großväter reine, von aller westlichen Zivilisation unbeleckte Skandinavier waren, von allen damals lebenden Menschen die, welche den römischen Geist am tiefsten rezipiert hatten. Alle nicht politische Kultur der Antike aber war hellenischen und nicht lateinischen Ursprungs.

In Katalonien — welchen Begriff ich auf das ganze Bereich dessen anwende, was gemeinhin unter provenzalischer Kultureinheit verstanden wird — in Katalonien nun finden wir die folgende historische Reihe. In der Antike war die Bevölkerung dieses Erdstrichs griechisch-ligurisch-phönizischer Abstammung, aber beinahe ausschließlich griechischer Tradition im weitesten Verstand; mit den letzten drei Worten erinnere ich daran, dass die hellenistische Ökumene auch die schöpferischesten Kräfte des Orients in sich hineinbezogen hatte. Von allen römischen Provinzen waren die, unter welche sich der katalanische Kulturkreis verteilte, in der heidnischen Spätzeit die vielleicht kultiviertesten. Diese Provinzial-Kultur erlitt mit der Verchristlichung den geringsten Kulturrückschlag. Wie dann die nordischen Völker hingelangten, zerstörten sie weniger an Vorgefundenem als irgendwo sonst. So konnte es geschehen, dass schon im sechsten und siebenten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, da das sonstige Mittelalter wirklich finster war, das katalanische Licht erschien; damals kam es dort sogar zum ersten kulturellen Höhepunkt. Und aus diesem heraus erwuchs dann später die allgemein als provenzalisch bekannte, eine der höchsten europäischen Kulturen überhaupt, zugleich die Wiege aller späteren europäischen Gesittung .

1 Ich empfehle in diesem Zusammenhang jedem die Novellensammlung Skiathos, Ile Grecque von Papadiamantis (von D. Merlier ins Französische übersetzt, 1934 in Paris im Verlag Belles Lettres, Collection Budé erschienen) zu lesen, nicht zuletzt um der hervorragenden Einführung des Übersetzers willen. An keinem mir bekannten Buche ward mir klarer, was lebendiges Fortleben im Unterschied von Buchtradition bedeutet. Das dort geschilderte ganz enge und extrem christliche Griechentum ist das echte Griechenland in seiner heutigen Form überhaupt. Aus dieser kann unzweifelhaft auf die Dauer ein neuer, kulturell höchstbedeutsamer Hellenismus hervorpriesen, denn das griechische Volk ist nach wie vor hochbegabt. Dieser aber wird dann höchstwahrscheinlich mit dem antiken Griechentum weit weniger Ähnlichkeit aufweisen, als dies vom Franzosentum und sogar vom geistigen Deutschtum gilt. Noch heute nämlich wirkt in der Tiefe der Griechenseele die Erschütterung ihrer Vorfahren durch die furchtbare (vermeintliche) Offenbarung fort, dass die alten Götter, an denen sich ihre ganze große Kultur orientiert hatte, falsche Götter gewesen waren. Deswegen ist Grundmotiv der heutigen Griechen das Schuldgefühl. Eine neue Schönheitskultur wird in Neu-Hellas schwerer als irgendwo Fuß fassen, wogegen die (in Ägypten geborene) christlich-asketische Lebensanschauung in Hellas vielleicht am längsten echte Vertreter finden wird. Die erste unbefangene Wiedergeburt des Spät-Hellenismus fand in Russland statt, eine weitere könnte in Rumänien erfolgen. Dem antiken Heidentum Ähnliches jedoch dürfte im Ostraum Europas schwerer wieder aufblühen als irgendwo sonst.
2 Das bisher einzige mir bekannte gute Buch über das Renaissanceproblem als solches ist das bisher leider nur in katalanischer Sprache vorliegende, von Joan Estelrich Fenix o l’Esperit de Renaixanca, Barcelona 1934, Biblioteca d’autors independents. Es sollte bald in eine bekanntere Sprache übersetzt werden. Mir ist es — wie ich unseren Mitgliedern vielleicht verraten darf — aus einem persönlichen Grunde besonders wert: weil es die schönste Widmung enthält, welcher ich je gewürdigt worden bin: Dem großen Renaissancisten aller Renaissancen.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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