Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
24. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1935
Bücherschau · Julius Evola · Erhebung wider die moderne Welt
Erfolg und Wirkung hängen bei Geistigem zum größeren Teile nicht von dessen Eigenwert ab, sondern von der Bereitschaft vieler, gerade diese oder jene geistigen und seelischen Inhalte aufzunehmen. Daher die verschiedene Wirkung des Gleichen von Land zu Land, von Zeit zu Zeit; daher die Möglichkeit dessen, dass manchmal Hochwertiges, manchmal wiederum Minderwertiges stärksten Einfluss ausübt; daher, allgemeiner ausgedrückt, die absolute Abhängigkeit aller Wirksamkeit vom jeweiligen Zustand des kollektiven Unbewussten. In letzter Zeit nun las ich ein Buch, dass in seinem Ursprungsland Italien kaum überhaupt Einfluss ausüben dürfte, in Deutschland jedoch vielleicht zu erheblicher Wirkung berufen ist: Julius Evolas Rivolta contra il mondo moderno (Mailand 1934, Ulrico Hoepli; deutsche Ausgabe Erhebung wider die moderne Welt, Stuttgart 1935, Deutsche Verlagsanstalt). Den Erfolg in Deutschland erwarte ich daher, dass Evolas Verherrlichung der sakralen Welt solar-männlicher Artung, wie solche seiner Ansicht nach die aller großen Urzeit gewesen sei, und seine Behauptung, dass nur eine Renaissance dieser Welt das Menschengeschlecht vor dem Untergang bewahren kann, den besten, ja vielleicht einzig möglichen Ansatzpunkt für Nationalsozialisten heidnischer Neigung darstellt, um zu einer Spiritualisierung ihrer Weltanschauung zu gelangen. Zuerst glaubten viele unter ihnen, ihren Philosophen
in Ludwig Klages gefunden zu haben. Das ging nur so lange an, als sie diesen gar nicht kannten oder verstanden. Denn Klages vertritt, obgleich er vielfach dieselben Naturtatsachen betont wie sie und gleich ihnen Irrationalist ist, einen dem ihren diametral entgegengesetzten Geist. Klages verabscheut allen Aktivismus, allen Fortschrittswillen, den ganzen männlichen Geist überhaupt, in welchem das Wesentliche des Nationalsozialismus als Tatsache liegt (auf die Doktrin kommt es wie bei allen lebendigen Bewegungen am wenigsten an). Klages ist der extremst-einseitige Vertreter der lunaren
Welt, welcher sich in unserem Jahrhundert denken lässt. Der Nationalsozialismus ist, im Gegenteil, durch und durch solar
gesinnt. Entwickelt er einmal die ihm gemäße Geistigkeit, dann kann diese, sofern sie antirationalistisch wäre, nur eine sakrale werden; nicht die Seele
kann ihr letzte Instanz sein, sondern nur solcher irrationaler Geist, wie ihn das römische, nicht das pelasgische Heidentum verkörperte und heute in noch so abgeschwächtem Grade die katholische Kirche vertritt. Schafft er sich also einmal den seiner tiefsten Gesinnung gemäßen und deshalb seiner dauerhaften Zukunft entsprechenden Mythos, dann wird dieser ganz anders aussehen als der sogenannte Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts: er wird magische
Geistigkeit in dem Sinne vertreten, welchen ich letzterem Eigenschaftswort gegeben habe.
Evola hat keinen persönlichen Zugang zu diesem tiefsten Geist. Dieser ist ihm Wunschbild. Und gleich den meisten Historikernaturen, die sich an solchen polarisieren, sucht und findet er seine Verwirklichung in der Vergangenheit. Doch dass das Wunschbild, welches er heraufbeschwört, Evola wirklich entspricht, beweist die Tatsache, dass in ihm dichterisch-überzeugend die antike Vision eines Abstiegs der Menschheit von den Höhen des goldenen Zeitalters zum ehernen von heute wiederaufersteht. Der sachliche Gehalt des Buchs sei hier kurz in den Worten Gustav Kilppers, seines deutschen Verlegers, wiedergegeben.
Für Evola gibt es zwei Grundtypen von Kulturen, die sich im bisherigen universalgeschichtlichen Ablauf entfaltet und verwirklicht haben: 1. die traditionsgebundene Welt (mondo tradizionale); 2. die moderne Welt (mondo moderno). Die metaphysische Grundlage desmondo tradizionaleist der elementare metaphysische Dualismus von Welt und Überwelt, aber in der Art, dass die Spitzenmenschen beide Ordnungen lebendig und männlich in sich verkörpern und die Verbindung zwischen Welt und Überwelt sich durch die Macht der Riten und die übernatürliche Zweckmäßigkeit der traditionsgebundenen Einrichtungen objektiv verwirklicht. Also ist die traditionsweltliche Kultur hauptsächlich gekennzeichnet durch das Prinzip der Hierarchie, d. h. der sakral fixierten Abstufung der Sozialordnung, die in der Urzeit einer Ordnung des Blutes und der Rasse entsprach. Daraus ergibt sich auch das Ideal des Helden und des Kampfes und als komplementäres Ideal das des universalen Reiches als Verkörperung der Anwesenheit und des Sieges des Übermenschlichen über das Naturbedingte. — Demgegenüber steht die modern-weltliche Kultur, die im wesentlichen negativ charakterisiert wird, als Auflösung und Negation des hierarchischen Prinzips, Fehlen des elementaren Dualismus von Welt und Überwelt, kurz Kultur des Verstandes, in der letztlich allein der entweihte Mensch im Mittelpunkt steht, die Kultur, deren Kardinalwert die Arbeit und nicht mehr die große Handlung und die aristokratisch-sakrale Überlegenheit ist, die Plebejerkultur, die unheldische Kultur des Nur-Wirtschaftlichen.
Aber nicht auf den Inhalt kommt es hier wesentlich an: das eigentlich Bedeutsame bei Evolas Buche ist, dass es aus den oben angeführten Gründen wahrscheinlich berufen ist, als wichtiges Ferment bei der Erstehung einer neuen deutschen Eigengeistigkeit mitzuwirken.
Darum empfehle ich dieses Buch meditativ zu lesen, bei gleichzeitiger vollkommener Geöffnetheit gegenüber den realen bewegenden Kräften dieser Zeit. Wer es also liest, der wird dank dieser Lektüre wohl nur in seltenen Fällen zu einer Bejahung von Evolas Gesamt-Konstruktion gelangen, so gut Urzustände vielfach rekonstruiert scheinen. Dafür wird er sich klarer darüber werden, was er selber im Tiefsten will. Und zu diesem und nur zu diesem Zwecke als Endziel sollte man überhaupt Bücher lesen. Wer also liest, der wird auch durch störendste Unzulänglichkeit nicht um seinen Gewinn gebracht. Mir z. B. ist Evolas Buch persönlich unmittelbar unsympathisch, weil allzuwenig beim Autor als Persönlichkeit auf einen aristokratischen Geist schließen lässt, woraus sich eine gewisse Diskrepanz zwischen Stil und Inhalt ergibt. Evolas gänzliches Unverständnis für das, was das christliche Kreuz der Welt versinnbildlicht, gibt seinem Buch einen Unterton von seelischer Stumpfheit und Roheit, und seine Nicht-Achtung aller nicht Starken oder Geweihten mit den sich daraus für ihn ergebenden ideologischen Konsequenzen beweist einen Mangel an Ritterlichkeit, mit deren Vorherrschaft in der Seele der Edelmann in Europa seit unserem Mittelalter stehen und fallen sollte. Nicht gerade vornehm finde ich es auch, dass Evola in seiner Behandlung Russlands und Amerikas meine in Amerika niedergelegten allgemeinen Ansichten nicht nur inhaltlich, sondern sogar in der speziellen Begriffsbildung (so spricht er oft in Anführungszeichen vom Tierideal
) wiedergibt, ohne auch nur einmal meinen Namen zu nennen, welches Beispiel mir zu glauben nahelegt, dass er des öfteren ähnlich verfährt. Aber das alles hat mich nicht gehindert, viel von der Lektüre dieses seines letzten Buchs zu haben.
Noch ein besonderer Punkt sei anlässlich Evolas kurz behandelt. Im neuen Italien spielt der Begriff des Imperiums eine neue und ganz andere Rolle, als ihn die (in jedem anderen Europäer wohl unwillkürlich einsetzende) Assoziation mit dem Begriff des Imperialismus nahelegt; auch eine andere als der des von Stefan George und seinem Kreise neube-sinnte Begriff des Reichs
. Es wird ausdrücklich auf spirituelle Wirklichkeit bezogen. Hier nun handelt es sich wesentlich nicht um einen Über-Hegelianismus, wie dieses manche faschistische Schriftsteller zu meinen nahelegen, sondern um ein Wiedererwachen Dantescher Tradition. Ich las jetzt erst, mich auf einstige Gespräche rückbesinnend, ein Buch des leider so früh verstorbenen Luigi Valli, das dieser mir schon 1925 geschenkt hatte: Il segreto della Croce e dell’ Aguila nella Divina Commedia (Bologna 1922). Dante bedeuteten Kreuz und Adler nicht dasselbe wie mir: ihm war der Adler das Sinnbild der Justitia; auch des Adlers Mitwirkung schien ihm zur Erlösung im christlichen Verstande unerlässlich. Und in der Göttlichen Komödie gab er in symbolischer Sprache seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Heillosigkeit der Welt, in welcher er lebte, daher rührte, dass der Adler zu schwach geworden war — nicht daher, dass sich das Christentum entchristlicht hätte. Freilich nun kann das Adlersymbol auch für Spirituelles stehen; eben für den solaren
Geist. Wird es nun aber also verstanden, dann ergeben sich daraus im Sinn einer Heilsforderung der Menschheit nicht die Postulate, welche die verschiedenen Nationalismen so oder anders vertreten — es ergibt sich daraus die eines neuen universalistischen Weltreichs. Wie ein solches nun in unserer Welt unter anderen als mittelalterlich-christlichen Ur-Voraussetzungen — so anders deren Ausgestaltung zu werden hätte — verwirklicht werden könnte, will mir nicht recht einleuchten. Deswegen scheint mir Evolas heidnischer Imperialismus
, mit dem ich mich an anderer Stelle befasst habe (s. Révolution Mondiale S. 51), wenig praktische Zukunftsbedeutung zu haben. Ich kann auch nicht recht einsehen, wie das heutige Italien eine andere als eine partikularistische politische Mission haben könnte. Universalismus aus mittelalterlichem Ur-Geist heraus wäre bis auf weiteres nur Spanien zu vertreten berufen. Ich verweise hier nochmals auf Ernesto Giménez Caballeros Genio de Espana (Madrid 1932) und meine Besprechung desselben in Heft 22 dieser Mitteilungen (S. 32 ff.).
Im Zusammenhang dieser Betrachtungen über die sakrale Welt sei übrigens hier noch auf Walter F. Ottos Dionysos, Mythos und Kultus (Frankfurt a. Main 1933, Victorio Klostermann Verlag), hingewiesen, weil diese Arbeit mit seltener Gegenständlichkeit die (von Evola bloß hingenommene, nicht durchleuchtete) Tatsache herausarbeitet, dass Kulthandlung in der Religionsentwicklung jeglicher Lehre und Theologie vorangeht. Am Anfang aller Religion stehe, vom Bewusstsein her geurteilt, nie der Mensch, sondern der Gott.
Durch ihn erst ist das Ziel und der Weg dahin, und auch die Not, die er wenden soll, geschaffen. Nicht weil der Mensch wünschte, erschien ihm ein Gott, um Erfüllung zu schenken: auch die Notwendigkeiten und Wünsche flossen wie die Gewährungen aus dem Wesen der Gottheit.
Der Gott nun äußert sich unmittelbar in Kultus:
Der Kultus als Ganzes gehört zu den monumentalen Schöpfungen des Menschengeistes. Um den richtigen Gesichtspunkt für ihn zu gewinnen, muss man ihn neben die Architektur, die bildende Kunst, die Dichtung und die Musik stellen, die alle einmal im Dienste des Göttlichen gestanden haben. Er ist eine der großen Sprachen, mit denen die Menschheit zum Erhabenen redet und aus keinem anderen Grunde redet, als weil sie reden muss. Das Erhabene und Göttliche verdiente diesen Namen nicht, wenn es den Menschen bloß einschüchterte und ihn nötigte, durch Gefälligkeiten sein Wohlwollen zu erringen. Der Beweis seiner Größe ist die Kraft, die es erweckt. Dem Gefühl seiner Gegenwart hat der Mensch das Höchste, dessen er fähig war, verdankt. Und dieses Höchste ist seine Sprachgewalt, die von der wunderbaren Begegnung zeugt, durch die sie empfangen und entbunden worden ist. Jede Offenbarung öffnet auch das menschliche Gemüt, und schöpferisches Tun ist ihre unmittelbare Folge. Der Mensch muss das Ungeheure heraussagen, das ihn ergriffen hat. Das tat er einst durch den Bau der Tempel, der sich in dem Riesenwerk der Dome noch bis in die Jahrhunderte, die vor uns liegen, fortgesetzt hat. Mag man sie Wohnungen des Göttlichen nennen — mit diesem Namen wird nur ein geringer Teil ihrer großen Bedeutung getroffen. Sie sind sein Spiegel und Ausdruck, aus einem Geiste geboren, der gestalten muss, wenn der Glanz der Größe ihn getroffen hat. — Die ehrwürdigste dieser großen Sprachen ist die des Kultus. Sein Zeitalter liegt weit hinter uns. Und es ist wahrlich kein Wunder, dass gerade seine Sprache uns fremder geworden ist als alle anderen. Denn sie zeugt von einer solchen Nähe des Erhabenen, dass der Mensch unmittelbar selbst, mit Darbietung seiner eigenen Person, zu der Ausdrucksgestalt werden musste, die jene anderen Sprachen aus größerer Distanz durch das Medium der Steine, der Farben, der Töne und der Worte zu schaffen berufen waren. Darum sind sie auch mit dem Schwinden der göttlichen Nähe mächtiger hervorgetreten, während der Kultus langsam erstarrte. Aber er hat sie noch Jahrtausende begleitet, und manche seiner Formen haben selbst in Spätzeiten noch die Kraft gehabt, das Göttliche zu rufen, dessen Gegenwart sie einst erweckt hatte.