Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
25. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1936
Bücherschau · Oliveira Salazar
Immer mehr Gutes vernahm ich von Oliveira Salazar, dem Reformator und Regenerator Portugals. Zuletzt hielt es mich nicht mehr: ich musste Gründliches über ihn lesen. Und von befreundeter Seite erhielt ich denn dazu die folgenden Schriften geliehen: Statut Du Travail National De La Republique Portugaise ed. S. P. N. Lisbonne, 1935; L’Empire Colonial Portugais, ed. S. P. N. Lisbonne; Oliveira Salazar: Neues Portugal, zwei Reden, Coimbra, Biblioteca da Universidade, 1935; Der Neue Staat und Seine Taten von Dr. Manuel Rodrigues, Rede in Braga gehalten am 02.12.1934, Ausgabe S. P. N. Lissabon; Constitution Politique De La Republique Portugaise, L’Acte Colonial, ed. S. P. N. Lisbonne, 1934; Constitution Politique De la Republique Portugaise et Acte Colonial (Modifications introduites par 1’Assemblee Nationale, au cours de sa premiere session legislative, Janvier-Avril 1935), ed. Du Secretariat De La Propagande Nationale; Visconde De Alcobaça: What Portugal owes to Dr. Salazar, a debt of gratitude, Editorial Imperio, Lisboa 1935; Le Portugal d’aujourd’hui, Principes ei institutions de l’elat nouveau Portugais, Lissabon 1935, ed. S. P. N.; endlich António Ferro: Salazar, le Portugal et Son Chef, Paris 1934, ed. Bernard Grasset.
Letzteres Buch vor allem ist nun so gut, dass ich es jedermann zu lesen empfehlen möchte. Abgesehen von der offenbar getreuen Wiedergabe von Salazars Grundsätzen und Ideen, vermittelt es ein so lebendiges Bild von der Persönlichkeit, wie gleich meines Wissens kein anderer moderner Interview-Künstler, heiße er Rom Landau, George Sylvester Viereck oder Emil Ludwig, bisher geleistet hat. Und diese Persönlichkeit macht einen ganz großen Eindruck dank der aus jeder Äußerung sprechenden Lauterkeit, Festigkeit und Verstandesschärfe. Salazar ist der eine und erste echte Gelehrtentypus, von dem ich weiß, welcher als Gelehrter zugleich großer Staatsmann wäre. Eben deshalb aber ist er ein Staatsmann ganz besonderer Art. Was ihn letztlich inspiriert, selbstverständlich von der Grundlage kompromissloser Vaterlandsliebe her, ist die Gerechtigkeit, aus der sich eine Art kühler Sachlichkeit ergibt, welche heute seltsam unmodern wirkt. Aber der Fall Portugal fällt eben aus dem Rahmen. Ich kenne kein anderes Beispiel, an welchem deutlicher wird, wie sehr jede Regierungs- und Krisenlösungsart durch den gegebenen Nationalcharakter einerseits, und andererseits die Raum- und Zeitumstände bedingt ist. Salazar, obschon Vertreter reinst autoritärer Regimentsidee, betont trotzdem den Machtgedanken überhaupt nicht: das ist, weil Portugal an Land mehr als saturiert ist. Er betont sachliche Ordnung an Stelle revolutionären Wollens, weil die Portugiesen in den letzten Jahrzehnten nur zu viele Revolutionen durchgemacht haben. Er vermeidet jegliche vermeidbare Härte und Gewaltsamkeit, weil solche beim weichen und sentimentalen Volkscharakter erfahrungsgemäß allgemeine Sympathie für deren Opfer wecken würde. Er legt den Hauptnachdruck auf natürliche Gemeinschaften und nicht auf den Staat, weil dieser in Portugal seit je eine allzu große Rolle spielt. Demgegenüber will Salazar mehr noch als alle anderen lebenden Reformatoren sein Volk zu einem anderen machen, als es bisher war.
Wird ihm das auskommen? Er selbst äußert Ferro gegenüber:
Die Natur des Menschen ändert sich wenig und die der Portugiesen fast gar nicht. Lese ich Klagen über Missstände des 15. oder 16. Jahrhunderts, so könnte ich glauben, dass es sich um heute erfolgte Eingaben handelt.1
So viel ist gewiss: die Völker werden auf die Dauer, gemäß Gustave Le Bons Grundsatz der Staatsweisheit, von ihrem Charakter und nicht ihren Einrichtungen regiert. Doch allerdings kann gerade dieser Charakter bis zu einem gewissen Grad durch Einwirkung von außen her gewandelt werden. Nicht von jeher gab es Preußen unter Deutschen. Das Interessanteste nun am Falle Salazar ist, dass er recht eigentlich das Gegenbild des typischen Portugiesen darstellt; er wirkt wie landfremd. Handelt es sich aber hier nicht vielmehr um eine Regel als um eine Ausnahme? Cromwell war in bezug auf das damalige England unenglisch, Napoleon ganz unfranzösisch; Bismarck fühlte sich englischen Staatsmännern verwandter als seinen typischen Landsleuten. Revolutionäre aber waren beinahe immer entweder Landfremde oder Grenzer; waren sie es nicht, so gehörten sie unter allen Umständen einem exzentrischen, wenn nicht direkt artfremden Typus an. Das kann nun gar nicht anders sein: wer da erneuern will, der muss Distanz und Spannung spüren zwischen dem, was er ist und was die anderen sind. Deswegen wurden Herrscher von jeher ursprünglich importiert und weiterhin so erzogen, dass größtmögliche Distanz zwischen ihnen und dem Volk bestehen blieb. Der Politiker mag so sein wie die Masse, der echte Staatsmann kann es gar nicht sein. Das ist, weil es sich bei Politik und Staatskunst um wesentlich verschiedene Dinge handelt. Diesen Unterschied habe ich im Buch vom persönlichen Leben und in Sur l’art de la Vie schon für die Öffentlichkeit herausgearbeitet, so dass ich hier nicht mehr darauf zurückzukommen brauche. Dafür möchte ich hier jeden auf das Buch eines anderen hinweisen, welcher, ohne sich der angedeuteten grundsätzlichen Unterschiede bewusst zu sein, doch de facto mit einer Schärfe und Klarheit unterscheidet, dass ich es in dieser Wendezeit in jedermanns Hände wünsche: ich meine Hans Freyers Pallas Athene, Ethik des politischen Volkes (Jena 1935, Eugen Diederichs). Ausgezeichnet steht dort dargelegt, wie sich der Staat immer gewaltsam, im Gegensatz zur natürlichen Entwicklung des Volkes, durchsetzt; wie sich der Staatsmann zum Volk recht eigentlich so verhält wie Michelangelo zum Marmor — nicht zuletzt auch darin, dass jedes Staatskunstwerk notwendig ein Torso bleibt. Und dass Erwachen zum politischen Volk insofern immer ein Verhängnis ist, als es ein Zurück nicht gibt: als Natureinheit mag ein Volk Jahrtausende währen, durch alle Katastrophen hindurch. Hat es sich aber einmal zum Staat zusammengefasst, dann hängt Sein oder Nichtsein davon ab, dass es auch Staatsvolk bleibt. Nun kommt alles darauf an, ob es nur Staatsvolk ist oder mehr. Entwickelt es sich Sparta-ähnlich, dann verarmt es; das Kunstwerk mag als solches groß sein, es ist Gehalts- und Inhalts-arm. Entwickelt es sich Rom-ähnlich, dann vereinseitigt es sich schicksalsmäßig zuletzt zu bloßem Rahmen, der ein sonst fremdgebliebenes Reich zusammenhält. Das Ideal wäre offenbar ein solcher Gleichgewichtszustand zwischen Staats-Kunstwerk und völkischer Naturgrundlage, dass alle Potenzen eines gegebenen Volkstums sich frei und reich entwickeln können. Einen Weg zu diesem höchsten Ideal scheint mir Salazar programmatisch betreten zu haben. Sind aber die Portugiesen in der Lage, sich so zu verwandeln, dass sie den notwendig starren abstrakten Rahmen mit ihnen gemäßem freien Leben füllen können? Alte Völker verändern sich schwer… Andererseits sollte es mich sehr wundern, wenn Spanien und Frankreich, wenn sie ihrerseits einmal die liberalistische Ordnung hinter sich lassen, nicht viel gerade von Salazars Idealen und Ideen übernehmen sollten.
Im übrigen tut es gut, sich darüber klar zu sein, wie sehr die ganze Welt in schneller Wandlung begriffen ist. Wie sehr dies von den Vereinigten Staaten Nordamerikas gilt, geht selten eindrucksvoll aus der ausgezeichneten gedrängten Übersicht der Veränderungen zwischen 1914 und 1930 hervor, die Frederick Lewis Allen unter dem Titel Only Yesterday (New York, Harper & Brothers; unsere Bibliothek besitzt das Buch) veröffentlicht hat. Dieses bis zur Krisis von 1929 scheinbar so unveränderlich gesegnete Land hat trotzdem nur wenig geringere, wenn auch weit weniger katastrophale Mutationen durchgemacht wie unser bedrängtes Europa. Es gibt eben, seitdem die modernen Verkehrsmittel alle Entfernungen illusorisch gemacht haben, überhaupt nur noch planetarische Umwälzungen. So gibt es auch, was immer man glauben möchte, keine Autarkie mehr. Wie anders war das früher! Ich möchte hier nun auf zwei Neuerscheinungen aufmerksam machen, ohne auf sie näher einzugehen: Alfred Webers Kulturgeschichte als Kultursoziologie, Leiden 1935, A. W. Sijthoff’s Uitgeversmaatschappij und Benedetto Croces Geschichte Europas im 19. Jahrhundert. Erstere gibt die bisher wohl plastischste Übersicht über alle soziologischen Sonderformen des Menschenlebens, die von der sogenannten Prähistorie an bedeutsam wurden, jene die bisher geschlossenste und zugleich tiefsteindringende Darstellung der Periode, die der liberale Gedanke als Dominante der europäischen Entwicklung darstellt (auch diese beiden Bücher besitzt unsere Bibliothek). So wird man nun vom 20. Jahrhundert an nicht mehr, sofern man gegenständlich sein will, Geschichte schreiben können; fortan gibt es nichts Sonderliches mehr, das nicht allseitig bedingt wäre und nicht seinerseits in alle Windrichtungen schöpferisch ausstrahlte. So dürfte auch das Folgende, das zur Zeit, da ich dieses schreibe, noch nirgends sichtbar ist, irgendeinmal an den verschiedensten, in keinerlei direktem Zusammenhang stehenden Orten sichtbar werden: die Periode des schnellen Fortschritts mündet eben jetzt in eine solche kompensatorisch starker Verlangsamung ein; eine Verlangsamung, die in der Wirkung derjenigen der Zeitlupe im Kino ähneln dürfte. Wie ich’s in der Einleitung zum Buch vom persönlichen Leben ausführlich begründet habe, ist das Grundproblem dieser Zeit das der Nicht-Angepasstheit des menschlichen Gesamtorganismus an die Verstand-bewirkte Geschwindigkeit. Das Ziel liegt selbstverständlich in der Harmonisierung auf höherer Ebene. Zunächst aber muss eine gefährliche Spaltung geschichtsbestimmend werden, eine Spaltung zwischen wachsender Geschwindigkeit auf der Ebene des Rationalen und Rationalisierbaren und kompensatorisch starker Verlangsamung aller übrigen Prozesse. Es wird langsamer verstanden, immer langsamer assimiliert werden. Die Menschen werden zeitweilig immer leichter ermüden, immer häufiger apathisch oder passiv oder krank werden. Ja es könnte dahin kommen, dass in dem Augenblick, da Fabriken jede Sekunde einen neuen fertigen Kraftwagen ausspucken, die Menschenmütter nicht mehr neun, sondern elf Monate benötigten, um Kinder auszutragen…
1 | Als ich das Portugal-Kapitel für die fünfte Auflage des Spektrum Europasschrieb, hatte ich keinerlei Geschichtsbilder dieses Landes gelesen, um die Unbefangenheit meiner Schau nicht zu stören. Wie ich nun kürzlich Reinhold Schneiders Das Leiden des Camoes oder Untergang und Vollendung der portugiesischen Macht(Hellerau bei Dresden, Verlag Jakob Hegner) las, da staunte ich über die Bestätigung meiner Gegenwartsvision, welche gerade Portugals größte Vergangenheit bietet. Dieses Buch sollte jeder lesen, der sich für das Problem des Portugiesen, dieses Sehnsuchtsmenschen par excellence, welchem Träume mehr bedeuten als Wirklichkeit und der deshalb schwer seine großen Ansprüche mit der Realität in Einklang bringt und dadurch lächerlich wird. Wegen dieser Grundanlage ist auch keineswegs sicher, dass Salazar eine Wiedergeburt Portugals einleiten wird: sicher scheint mir nur, dass seine Ideen sich für andere lateinische Völker als richtunggebend erweisen werden. |
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