Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
25. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1936
Bücherschau · H. de Geymüller, Paul Brunton, Ouspensky
Es ist mir eine wahre Freude, zu sehen, dass ich nicht mehr ganz allein stehe als Vertreter der Philosophie als eines Ausdrucks von Wirklichkeits-Erleben. Mit den Vitalisten und Chthonikern, mit denen man mich manchmal zusammennennt, habe ich nämlich nichts gemein: sie sind genau solche Theoretiker, d. h. von außen her Urteilende von abstrakten Voraussetzungen her, wie die von ihnen befehdeten mechanistischen oder sonst rationalistischen Denker. Was nun die europäische Vergangenheit betrifft, so kenne ich überhaupt nur einen Philosophen, mit dem ich mich im mindesten verwandt fühle: Swedenborg. Diesen kannte ich bis jetzt nur ganz oberflächlich, aus erster Hand überhaupt nicht. Nachdem nun aber die Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart H. de Geymüllers ausgezeichnete Auswahl (mit einem von Hans Driesch kritisch durchgesehenen und mit einem Nachwort versehenen verbindenden Text) aus dem Riesen-Lebenswerk des nordischen Sehers herausgegeben hat, habe ich mich zum erstenmal in diesen schöpferischen Geist wirklich hineinversetzen können. Und da muss ich sagen: ähnlich echtes und zugleich gedanklich erfasstes und durchdrungenes Geist-Erleben begegnete mir noch nie. Gewiss war auch Swedenborg von Vorurteilen keineswegs frei. Diese liegen bei ihm einerseits auf dem Gebiet im Unbewussten so fest verankerter dogmatisch-religiöser Voraussetzungen, dass er nur von ihnen her oder durch sie hindurch erleben konnte, andererseits auf dem der dem 18. Jahrhundert eigentümlichen Überschätzung der Vernunft und der transienten Gültigkeit von deren Konstruktionen. Doch die hierdurch bedingten Verfälschungen von Swedenborgs wahrem Erleben sind heute so leicht zu durchschauen, dass sie einen kaum hindern, des Wirklichen innezuwerden, von dem Swedenborg unmittelbare Erfahrung zuteil ward. So darf man denn behaupten: wenn je ein Seher glaubwürdig war, dann war es dieser. Es ist lächerlich, gerade bei diesem urgesunden Mann die Diagnose auf Pathologie zu stellen: sofern Swedenborg nicht normal
war, bedeutete sein Abnormes offenbar die Voraussetzung von übernormalem Sein und Können. Einen weiteren Erweis von Swedenborgs wesentlicher Glaubwürdigkeit bedeutet die staunenswerte Menge von Erkenntnissen nicht nur des 19., sondern gerade des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiete der äußeren Natur, welche Swedenborg vorweggenommen hat; über diesen Punkt empfehle ich Geymüller besonders aufmerksam zu lesen. Nirgends spürt man bei Swedenborg verfälschende Phantasie am Werk, wie in so vielen Fällen beim trotzdem auch sehr beachtlichen Rudolf Steiner. Alles in allem war Swedenborg der erste europäische Verwirklicher des Ziels der Gewinnung integraler Offenbarung
. Nur weil er unbewusst von den Voraussetzungen ausging, welche ich vertrete, hat er mit Vollmacht auf nahezu allen Gebieten reden können. Man verstehe mich recht: selbstverständlich bin ich ein Geist ganz anderer Art als Swedenborg. Mir fehlen übernormale Fähigkeiten, ich bin der Anlage nach weder Theolog noch auch exakter Forscher; und mein erlebtes Weltbild ist ganz anders als das des nordischen Sehers. Dennoch überwiegt, groß gesehen, die Verwandtschaft über der Unähnlichkeit. Denn wir beide gehen in allem und jedem von der Erfahrung aus, uns beiden bedeutet Philosophieren denkgerechte Verarbeitung von Geist-Erleben, auf welches Erleben alles letztlich ankommt, und uns beiden ist alle Wirklichkeit in erster Instanz gleich wirklich.
Im Geiste obiger kurzer Betrachtungen rate ich jedermann, die empfohlene Swedenborg-Auswahl zu lesen. Anschließend daran dann das merkwürdigste aller Bücher über das Sterben und das rechte Verhalten dabei, das es überhaupt gibt: The Tibetan Book of the Dead or The alter-Death Experiences an the Bardo-plane, translated by W. Y. Evans-Wentz, Oxford University Press 1927, wovon jetzt auch eine deutsche, in der Schweiz erschienene Ausgabe existiert, mit einer (mir noch unbekannten) Einführung von C. G. Jung. Über dieses Buch will ich zur Zeit nichts Näheres sagen, behalte mir das vielmehr für spätere Zeiten vor. Es genüge der Hinweis, dass es sich hier um den Niederschlag des unmittelbaren Erlebens von unzähligen Generationen okkult begabter Menschen handelt von ausgesprochen nüchternem Realismus. Nur der freilich wird den in diesem Totenbuch enthaltenen Offenbarungen bewusst folgen können, dem sie wenigstens zu einem kleinen Teil in seinem Unbewussten schon zuteil wurden und dem der indo-chinesische Denk- und Ausdrucksstil so kongenial ist, dass er das an sich Fremdartige durchschauen und in die ihm gemäße Sprache übersetzen kann. Man versteht immer nur durch schon Verstandenes, man erfährt Neues immer nur durch schon Erfahrenes hindurch; und das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck schafft seinerseits von Fall zu Fall spezifische Grenzen. Aber da auch hier grundsätzlich und wesentlich Wirklichkeitserleben vorliegt und nicht Theorie, so wird auch nur zum Teil bewusst verstehende Lektüre den Leser mehr fördern, als das Studium irgendeiner, selbst der gewaltigsten, bloß denkerischen Leistung.
Es gilt eben vom konkreten Geist her geistige Wirklichkeit zu assimilieren. Alles andere ist auf geistigem Gebiete unwesentlich, wenn nicht überflüssig oder gar schädlich. Eben deshalb halte ich auch das Bekanntwerden mit guter journalistischer Beschreibung echter Vertreter des lebendigen Geists für eine bessere Einführung in eigenes Geistes-Leben, als das Studium der in ihrer Art zum Teil bewundernswerten Konstruktionen von Jaspers und Heidegger. (Über beide will ich dieses Mal noch nichts Ausführliches sagen. Nur so viel sei ausgesprochen: Soweit es sich bei der sogenannten Existentialphilosophie um Positives handelt, handelt es sich um Grenzbestimmungen im Sinne Kants. So hat vor allem Jaspers in vielen Fällen sehr glücklich gezeigt, wer ein Philosoph ist und was Philosophie in Abgrenzung von Kunst und Wissenschaft soll. Aber aus seinem eigenen Philosophieren spricht im großen und ganzen keine metaphysische Vollmacht hindurch. Neben dem ersten kritischen Band seiner Philosophie
fällt der zweite, metaphysisch sein sollende, ganz erschreckend ab. Was er da sagt, ist restlos unverbindlich. Beim dritten aber hatte ich (s. zumal die Seiten 130-34, 137, 141 ff.), in Form unverbindlicher Gedankenkonstruktion, den unangenehmen Eindruck direkten Plagiats an mir, denn zitieren tut mich Jaspers nicht ein einziges Mal. Ich will nicht behaupten, dass ein solches tatsächlich vorliegt. Gelesen hat mich Jaspers höchstwahrscheinlich, von meinen Ideen gehört hat er sicherlich, aber freilich braucht er sie nicht verstanden zu haben. Deswegen mache ich ihm hiermit keinen direkten Vorwurf. Nichtsdestoweniger enthalten die bezeichneten Stellen de facto sachlich-trockene Wiedergeburten meiner persönlichsten Einsichten in die verschiedenen Stockwerke der Sprache, wie sie in Schöpferische Erkenntnis (geschrieben 1921) niedergelegt wurden, in den innerlichen Geisteskosmos, welcher gleichsam senkrecht (genau dieses Bild verwendet auch Jaspers!) zum äußerlich ausgebreiteten gelegen ist (öffentlich ausgesprochen 1923, nachher in Wiedergeburt [1927] aufgenommen), und die Vieldeutigkeit jedes Sinnes
(ab 1921 immer wieder in Wort und Schrift von mir vertreten). Alles dies aber, noch einmal, in der unverbindlichen Form, die aller sachlichen Gedankenkonstruktion eignet. Jaspers ist eben Denker, glaubt durch das Denken als solches philosophisch Bedeutsames leisten zu können, und das ist unmöglich.)
In meiner Einführung zum Buche Das Okkulte schrieb ich 1921, der beste Weg zur rechten Beurteilung des
Okkulten sei genaues Studium des lebendigen Okkultisten als organischen Typus
. Meine damaligen Anregungen, von denen ich mir besonders viel versprach, da sie bei der an einem Medium offenbar gewordenen noch so fernen Möglichkeit, die Tatsächlichkeit der Wiederverkörperung experimentell zu erweisen, anknüpften, sind bisher leider überhaupt nicht aufgegriffen worden. Offenbar war ich den Okkultismus-Gläubigen zu kritisch und deren Kritikern zu unbefangen Erfahrungsbereit. Deswegen begrüße ich heute journalistische Versuche, die Psychologie übernormal begabter Geister zu schildern, als zur Zeit für die Mehrheit kürzesten Weg zu tieferer Einsicht. Da wäre denn vor allem Paul Brunton: A Search in Secret India (London, Rider & Co.) zu nennen. Das Buch beginnt in echtem Reporter-Stil und hat deshalb anfangs mich wie viele andere abgestoßen. Wie es Brunton aber dann gelang, die wenigen echten Heiligen und Wunderwirker kennenzulernen, die noch in Indien leben, da ermöglichte ihm sein Reporter-Genie Niedagewesenes: die Atmosphäre und Emanation solcher Menschen wirklich aufzufangen und so darzustellen, dass jeder Empfängliche ihre Wirklichkeit als solche nacherleben kann. — Eine geringere, aber immerhin nützliche Leistung auf gleichem Gebiet und gleichen Sinns bezeichnet Rom Landaus God is my Adventure (London 1935, Ivor Nicholson & Watson). Hier spielt freilich häufig Journalismus Emil Ludwigscher Artung auch mit; das erste Kapitel über das Darmstadt von 1921 ist in diesem Sinne sogar dermaßen geschmacklos, dass so manche ernste und vornehme Engländer, die gar nicht besonders positiv zu mir standen, das Buch darum nicht weiterlesen mochten. Auch sonst enthält es allzuviel news
im amerikanischen Verstand, welcher zeitgemäße Stil dem Verkauf freilich glänzend zustatten gekommen ist. Und da Rom Landau absolut kein Philosoph und auch religiös nicht sonderlich begabt ist (obgleich er immer mehr als Konvertit zum einfachen volkstümlichen Christentum eine Lehrer-Rolle zu spielen sucht), so ist alles, was er über die Leistung seiner Studienobjekte sagt, unwesentlich, wenn nicht gar irreführend. So ist Rom Landau, wie K. E. Krafft einmal schrieb, auf Rudolf Steiner, aus Ehrfurcht vor dessen Schlechtestem, seinem System, recht eigentlich hereingefallen, und weder Ouspenskys noch auch meiner Geistigkeit wird er auch nur einigermaßen gerecht. Aber Rom Landau ist ein bewundernswerter Psycholog, und das äußere Seelenbild der meisten unter uns (bei weitem am besten ist ihm dasjenige Krishnamurtis gelungen; gut ist der zweite Aufsatz über mich, The loneliness of Hermann Keyserling, und die Charakteristik Ouspenskys; sehr interessant sind die Porträts Sri Meher Babas, Jeffreys und Gurdjieffs; ganz unzulänglich sind einzig die Porträts von Stefan George und Bô Yin Râ) hat er besser als irgendein früherer abkonterfeit. Dazu mit bestem Willen, aus einem hohen Ethos der Verpflichtung zur Anerkennung von Höherem und aus echter Sehnsucht nach spirituellem Eigen-Leben heraus. So ist auch Rom Landau trotz allem, trotz dem allzu vielen, was sich gegen ihn einwenden lässt, ein dankenswerter Einführer in die Möglichkeit geistiger Existenz auf höherem Niveau. Und in einer Zeit, welche geistige Anstrengung wie kaum eine frühere scheut, wo die Menschen in erster Linie unterhalten werden wollen, können nur solche Bücher in weiteren Kreisen überhaupt die Bereitschaft zur Beschäftigung mit Intensiverem schaffen.
Insofern hat Rom Landau besonders Ouspensky recht eigentlich den Weg bereitet, denn dieser ist als Geist extrem intensiv, als Mensch trocken und ohne persönlichen Magnetismus und ohne künstlerische Ausdrucksbegabung. Von dem Eindruck, den seine Bücher mir gemacht haben, berichtete schon Heft 24 dieser Mitteilungen. Vorigen Sommer nun besuchte mich Ouspensky während meiner Durchreise in Paris, und wir hatten ein langes Gespräch. Der persönliche Kontakt verstärkte noch meine Überzeugung von Ouspenskys Echtheit und Geistestiefe. Und nachdem er mir nun vom Text der Vorträge, die er in englischer Sprache seinen eigentlichen Schülern über das hält, was er unter Psychologie versteht (nämlich die Heranbildung des Menschen, der nur ein Same und ohne echtes Selbstbewusstsein, mehr Maschine als selbstbestimmt, sei, zum Übermenschen), Kenntnis gegeben, kann ich jedem, der nach London zu reisen in der Lage ist, nur raten, an diesen Vorlesungen teilzunehmen: von einem zweiten Menschen vergleichbarer Begabung weiß ich nicht. Und substantieller Geist ist immer nur persönlich und nur von der Person her und auf sie hin wirklich zu erleben. Petr Demjanowitsch Ouspenskys Adresse ist 55ª Gwendwr Road, London W 14, sein Sekretariat gibt alle erforderliche Auskunft. Doch nur der wende sich andererseits an ihn, der wirklich lernen will. Freiwilligkeit und leidenschaftlicher Wille zum Mehr-Werden sind die unerlässlichen Voraussetzungen dafür, dass einer irgend etwas durch Schulung lerne. Geistesentwicklung beginnt nämlich auf allen Gebieten und in allen Richtungen genau an dem Punkt, wo die Möglichkeit von Suggestionswirkung aufhört.
Noch eine allgemeinere Betrachtung zum Problem des Wegbereitens. Niemals noch in der Geschichte waren es die intensiven Geister selbst, von denen die erste Wirkung in die Weite und Breite ausging; immer waren es verstehende Jünger. Dies liegt der Hauptsache nach am Folgenden. Den Allermeisten fehlt das Organ zu unmittelbarer Erfassung von Tiefem, doch können sie geringere Geister verstehen, welche ihrerseits die Tiefen verstanden. Die Geringeren sind ihnen ferner weniger fremd, so wecken sie weniger Abwehrbewegung. Von geringerer Vitalität, entfachen sie weniger Neid. Sie allein können Begriffe schaffen, die zwischen Neuem und Bekanntem vermitteln. Endlich sind normalere Geister immer die angeseheneren. Nie genoß der lebende Kant, von Schopenhauer und Nietzsche zu schweigen, ein auch nur annähernd ähnliches Prestige wie so mancher populäre würdige Oberpastor einer größeren Stadtkirche. Bergsons beste Schriften waren vor der Jahrhundertwende erschienen. Noch 1903 wurde ich, damals nicht mehr als ein junger Frechdachs, in Paris gefragt, ob an Bergson Besonderes dran wäre, und mein Urteil hatte in den weiten Kreisen, welche Frühreife anstaunen, Gewicht. Da schrieb William James, 1907 oder 1908, damals höchst berühmt, einen Artikel über Bergson im Hibbert Journal, und Balfour sekundierte ihm: mit einem Schlage — aber dann erst — wurde Bergson als der anerkannt, der er, durch Höchstleistung erwiesen, seit 25 Jahren war…