Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
25. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1936
Bücherschau · Albert Schweitzer
Merkwürdigerweise berührt das wirklich Erstaunliche die meisten am seltensten als wunderbar; für sie beginnt das Staunen mit dem Ungewohnten als solchen, dessen bloße Möglichkeit sie dann, solang es geht, in Frage stellen — wogegen sie das Unbegreiflichste als selbstverständlich hinnehmen, wenn sie es nur gewohnt sind. Zu solchem nicht anerkannten höchst Erstaunlichen gehört nun die Tatsache, dass es nachweislich möglich ist, historische Begebenheiten, so wie sie wirklich waren, desto sicherer festzustellen, je weiter die Zeit fortschreitet und je größer folglich der Abstand zwischen Begebenheit und geistiger Verarbeitung ist. Denn die Brücke, welche so viele gern für das Verständnis schlagen, nämlich die Erwägung, dass im Verlauf der Zeit immer mehr Dokumente zutage kämen, ist nicht tragfähig: in den allermeisten Fällen kommen nicht mehr Nachweise zum Vorschein, im Gegenteil — es gehen fortschreitend mehr frühere Nachweise verloren.
Die wahre Erklärung nun hat mit der Zeit an sich überhaupt nichts zu tun, sie liegt im Folgenden: in erster Linie in dem, dass, je mehr Zeit verstreicht, desto größere Wahrscheinlichkeit besteht, dass ein zum Historiker genial begabter Mensch geboren wird und sich dem fraglichen Gegenstande zuwendet; in zweiter Linie in dem, dass im Laufe der Entwicklung die für alle Geschichtsschreibung gültigen Grundsätze und technischen Erfordernisse sich immer deutlicher an der Erfahrung erweisen, so dass immer mehr Irr- und Umwege von vornherein vermieden werden; erst in dritter Linie liegt die Erklärung in dem, dass jeder spätere Darsteller eine größere Menge amortisierter Irrtümer von vornherein unbeachtet lassen kann.
Doch die erstgemachte Erklärung ist in allen Fällen die erst- und letztentscheidende zugleich. Es gibt seltene Menschen, denen das Genie eignet, mit Grabwespen-artiger Sicherheit gerade die Punkte in der noch so kargen vorhandenen Überlieferung zu treffen, welche bei der möglichen Evokation des wirklich Gewesenen die Rolle des bewegenden und bestimmenden Nervenzentrums spielen. Diese auf nichts anderes zurückführbare Fähigkeit war es, die jeden bahnbrechenden Historiker aller Zeiten ausgezeichnet hat. Doch nicht bei allen tritt sie überhaupt sichtbar zutage. Wo das Quellenmaterial sehr vollständig ist, oder wo der Historiker sehr reichhaltigen, an sich nicht zur Bestimmung des Wesentlichen notwendigen Stoff heranzieht, vor allem aber, wo seine künstlerische Phantasie und Darstellungsgabe sehr groß sind, dort ist es beinahe unmöglich, die entscheidende Fähigkeit gesondert herauszupräparieren. Unlängst las ich nun zwei Bücher, die mir der Verfasser schon vor langen Jahren geschickt, die ich aber nie früher zur Kenntnis genommen hatte — Albert Schweitzers Mystik des Apostels Paulus und Geschichte der Leben-Jesu-Forschung: ich kenne kein Werk der Weltliteratur, in dem das Entscheidende bei der Historikerbegabung unverdeckter und gleichsam herauspräparierter hervortritt als bei den zwei genannten.
Denn Künstler ist Albert Schweitzer wohl als Orgelspieler, nicht jedoch als Schriftsteller. Ihm fehlt jede Einbildungskraft außer der jener besonderen Phantasie für die Wahrheit des Realen
(Goethe), die eben den bedeutenden Geschichtsschreiber macht. Als Philosoph und Weltanschauer ist er nichts als Ethiker, ja er ist dürftig und im tiefsten eng und hart im Zusammenhang eines sehr großen, wiederum für den reinen Ethiker charakteristischen Hochmuts, und sein Schriftstellerstil ist trivial. Eben die Dürftigkeit und Unbedeutsamkeit eines Teiles seiner Anlage nun lässt Albert Schweitzers Historiker-Genialität einzig plastisch hervortreten. Wie ich seine Rekonstruktion von Pauli wahrer Eigenart und Gesinnung las, da kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Wie viele Jahrhunderte entlang ist dieser merkwürdige Mann nicht nach allen Richtungen hin durchdacht und meditiert worden! Nichtsdestoweniger ist es Albert Schweitzer gelungen, und zwar ohne die geringste Hilfe durch neuentdecktes Material, einen in bezug auf alle Vorurteile neuen Paulus nachzuweisen und darzustellen; einen fanatischen Juden, in dem nichts vom Griechengeiste lebte, der in den meisten vorchristlichen Vorurteilen befangen war und persönlich an Dinge glaubte, an die kein heutiger Christ mehr glaubt! — Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung ist natürlich von geringerem allgemeinen Interesse; das kann in Anbetracht der Fragestellung nicht anders sein. Nichtsdestoweniger enthält auch diese Feststellungen, zu denen nur das führen konnte, was ich vorhin als Grabwespen-artigen Geist bezeichnete; hier denke ich besonders an die Schilderung des Rationalisten K. Barth (S. 38 bis 43), der die Ansicht vertrat, Christi Passion sei ähnlich vorausbedacht und inszeniert worden wie ein Reichsparteitag — eine wunderbarere Illustration des Sinnes jenes Rationalismus kenne ich nicht. Und am Schluss des Bandes gibt Schweitzer die tiefsinnigste Bestimmung des wahren Verhältnisses von Gegenwart und Jesu geschichtlicher Gestalt, wie dieses sein sollte, die mir überhaupt bekannt ist. Ich setze Schweitzers Ausführungen von S. 638-640 in extenso her (das war notabene 1913 geschrieben):
Das Preisgeben der ethischen Eschatologie rächt sich. Statt für den Triumph des sittlichen Gottesgeistes zu kämpfen, bei dem der Einzelne, die Völker und die Konfessionen von einer sie aufrecht erhaltenden Begeisterung getragen wären, ist unsere Menschheit im Begriff, die Welt an die Herrschaft der Geister der Gedankenlosigkeit auszuliefern, sich mit dem Stillstand und dem Rückschritt der Kultur abzufinden und darauf zu verzichten, alles, was Mensch heißt, auf die Höhe wahrer Humanität zu erheben. Diejenigen, die sehen, wohin wir treiben, und sich nicht abstumpfen lassen, sondern die Angst und das Weh um die Zukunft der Welt immer wieder von neuem erleben, sind bereitet, den historischen Jesus zu begreifen und zu verstehen, was er bei aller Fremdheit seiner Sprache uns zu sagen hat. Sie erfassen mit ihm, der in der Erkenntnisweise seiner Zeit ähnliche Angst und ähnliches Weh erlebt hat, dass wir uns aus den gegenwärtigen Zuständen durch ein gewaltiges, den Dingen, wie wir sie sehen, Hohn bietendes Hoffen und Wollen des Reiches Gottes erlösen, in dem Glauben an die unüberwindliche Macht des sittlichen Geistes Halt, Freiheit und Friede finden, diesen Glauben und die ihm entsprechende tätige Gesinnung um uns herum verbreiten, in dem Reich Gottes das höchste Gut finden und dafür leben müssen.
Das Entscheidende ist das Enthusiastische und Heroische der Weltanschauung, das aus dem Wollen des Reiches Gottes und dem Glauben an dasselbe kommt und durch die hemmenden Zustände nicht vermindert, sondern gesteigert wird. In einer Religion ist so viel Verstehen des historischen Jesus, als sie starken und leidenschaftlichen Glauben an das Reich Gottes besitzt. Die Beziehungen, die sie darüber hinaus zwischen ihm und sich herstellen möchte, sind unwirklich und existieren nur in Worten und Formeln. Wir besitzen nur so viel von ihm, als wir ihn uns das Reich Gottes predigen lassen. Die Unterschiede der Metaphysik und des Vorstellungsmaterials können dabei ganz zurücktreten. Nur darauf kommt es an, dass die Bedeutung des Gedankens des Reiches Gottes für die Weltanschauung bei uns dieselbe ist wie für ihn und wir die Wucht und das Zwingende desselben in der gleichen Stärke erleben wie er.
Es handelt sich um ein Verstehen von Wille zu Wille, bei dem das Wesentliche der Weltanschauung unmittelbar gegeben ist. Ein ins Kleine gehendes Scheiden zwischen Vergänglichem und Bleibendem in seiner Erscheinung und seiner Verkündigung ist unnötig. Wie von selbst übersetzen sich seine Worte in die Form, die sie in unserem Vorstellungsmaterial annehmen müssen. Viele, die auf den ersten Blick fremd anmuten, werden in einem tiefen und ewigen Sinne auch für uns wahr, wenn man der Gewalt des Geistes, der aus ihnen redet, nicht Eintrag zu tun sucht. Fast möchte man gegen die Sorgen, wie seine Verkündigung für moderne Menschen verständlich und lebendig gemacht werden könnte, sein Wort Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch dies alles zufallen in Erinnerung bringen.
Dass er eine übernatürlich sich realisierende Endvollendung erwartet, während wir sie nur als Resultat der sittlichen Arbeit begreifen können, ist mit dem Wandel in dem Vorstellungsmaterial gegeben. Man versuche nicht, durch Künste der Auslegung unserenEntwicklungsgedankenin Jesu Worten angedeutet zu finden. Nur darauf kommt es an, dass wir den Gedanken des durch sittliche Arbeit zu schaffenden Reiches mit derselben Vehemenz denken, mit der er den von göttlicher Intervention zu erwartenden in sich bewegte, und miteinander wissen, dass wir imstande sein müssen, alles dafür dahinzugeben.
Auch das, was das moderne Empfinden gemeinhin an ihm als anstößig empfindet, stört nicht mehr, wenn es von Wille zu Wille erkannt ist. Er hat Arbeit, Besitz und sonst noch manches, was uns als ethisches Gut gilt, nicht als solches zu werten vermocht, weil es für ihn außerhalb der Bauflucht des Reiches Gottes lag. Für uns haben sich die Verhältnisse verschoben, so dass ins Licht rückt, was im Schatten lag. Also stellen wir sie in den Dienst des Reiches Gottes und bleiben in Übereinstimmung mit ihm, weil wir das letztere als Maß aller sittlichen Werte betrachten.
Jesu spätjüdisches Vorstellungsmaterial bringt es mit sich, dass er prädestinatianisch denkt und für seine Wirksamkeit nationale Schranken voraussetzt. An der Tatsache ist nicht zu deuteln. Auch sonst ist noch gar manches Fremdartige und Anstößige anzuerkennen. Aber immer liegt es am zeitlich bedingten Vorstellungsmaterial und wird hinfällig, sobald sich der Wille Jesu als solcher in unsere Anschauungswelt übersetzt.
Die eschatologische Auffassung Jesu ist also nicht, wie man so oft annimmt, eine Erschwerung seiner Verkündigung an unsere Zeit. Wenn wir nur das Zwingende in seiner Person und seiner Predigt vom Reich Gottes zu Worte kommen lassen, so kann das Fremdartige und Anstößige ruhig festgestellt werden. Es erledigt sich von selbst, sobald seine Bedingtheit durch das ihm vorliegende Vorstellungsmaterial erkannt ist. Dazu bedarf es weder langer Reden noch großer vorauszusetzender Kenntnisse. Tatsächlich ist der wirkliche Jesus leichter zu verkünden als der modernisierte, wenn man nur das Elementare an ihm zu uns reden lässt, damit er wirklich auch für uns der ist, der gewaltlich predigt und nicht wie die Schriftgelehrten.