Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

25. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1936

Bücherschau · Georges Simenon

Einer der größten und zugleich häufigsten Fehler, welche kritische Geister begehen, ist der, dass sie von der zusammenhängenden Einheit des Menschen insofern ausgehen, dass sich Teilhabe an Geist und Ausdruckskraft, oder Begabung und Interesse notwendig entsprechen müssten. Das Urangst-geborene Einheitsbedürfnis ist bei sehr vielen dermaßen stark, dass ihnen die unzurückführbare Vielfältigkeit des Menschenwesens als solche schon nicht nur ein Skandal, sondern ein derartiger Schrecken ist, dass keine bewusste Selbstbelügung, keine oberflächliche Verstandeskonstruktion ihnen zu schlecht ist zur Beruhigung darüber, dass ihre atavistischen Vorurteile dennoch zu Recht bestehen. Bei Kritikern nun tritt zu diesem Allgemeinen noch das Besondere, dass sie aus professionellen Gründen vor sich und anderen den Schein wahren müssen, als ständen sie als Richter oberhalb des Schöpfers. Und so müssen sie wohl, wenn sie überhaupt Geister beurteilen wollen, welche ihnen überlegen sind, ein Kriterium anwenden, das die Richteranmaßung einigermaßen berechtigt erscheinen lässt. Das übliche Kriterium ist denn die am Eingang dieses Absatzes gerügte Gleichung. Wohl hat schon Halbgott Goethe gesagt, das Schönste sei, wenn ein Mensch mit einem Talente zu einem Talente geboren sei — was eben impliziert, dass solcher Einklang nicht notwendig ist. Nichtsdestoweniger fahren Kritiker fort, das mit und zu selbstverständlich als Korrelativ vorauszusetzen.

Zur Zeit lebt nun ein so eindrucksvoller Gegenbeweis zur üblichen falschen These, dass ich ausdrücklich auf ihn aufmerksam machen möchte: das ist der französische Kriminalromanschriftsteller Georges Simenon. Ich kaufte mir zuerst seine Romane zu gleichem Zweck, zu dem ich mir überhaupt Kriminalromane kaufe: als Schlafmittel; sobald nämlich ein solcher Roman wirklich spannend wird, schlafe ich, dank irgendeiner von mir noch nicht verstandenen Paradoxie meiner Anlage, sicherer ein, als wenn ich Morphium nähme. Kaum aber hatte ich zu lesen begonnen, da merkte ich auf: in der ganzen französischen Literatur ist mir kein Romanschriftsteller von vergleichbarer ursprünglicher Begabung bekannt. Simenon steht insofern sogar über Balzac, dem reichsten unter ihnen. Simenon schrieb jahrelang zwei bis drei, wenn nicht mehrere kurze Romane — nicht etwa im Jahre, sondern im Monat. Bisher las ich deren gegen zwanzig: nicht einer gleicht dem anderen. Jedes plot ist neu und originell. Und die Darstellungskraft ist so groß, dass wenige kurze Striche allemal eine Landschaft, eine Situation, eine Seelenstimmung nicht nur anschaulich bestimmen, sondern zwingend in der Seele des Lesers neu entstehen lassen. Handele es sich um französische Provinz, Paris, Holland, das tropische Afrika, Seemanns- oder Verbrechermilieus, innere oder äußere Konflikte: in jedem mir bekannten Fall sieht man ein wahrhaft riesenhaftes Talent am Werk.

Und dennoch bedeutet Simenons œuvre nicht große Literatur. Das liegt offenbar daran, dass ihm der literarische Wert als solcher gleichgültig ist. Simenon ist zwar mit, nicht jedoch zu einem Talente geboren. Bewusst will er offenbar nur unterhalten und dabei Geld verdienen. In Paris begegnete ich einem, der ihn persönlich kannte: sehr reizend soll er, trotz der ungeheuren Anzahl seiner Romane, sein, noch ganz jung, nur in letzter Zeit ein wenig heruntergekommen. Einen Knacks habe ihm vor allem sein Versagen bei seiner Mithilfe bei der Untersuchung der Stavisky-Affäre gegeben. Das hätte er freilich vorher wissen können, dass der geborene Erfinder niemals zugleich der berufene Entdecker ist. In bezug auf die gegebene Wirklichkeit ist der Phantasiereiche seiner Uranlage nach Lügner, als welchen Plato bekanntlich den Künstler überhaupt bestimmte.

Ich möchte nun meinen Freunden ernstlich raten, nicht allein Simenon zu lesen, wenn ihnen um gute Kriminalliteratur zu tun ist, sondern vor allem seinen Fall zu meditieren. Die Meditation solch paradoxaler Symbole kann nämlich von hemmenden und verbildenden Vorurteilen schneller befreien, als alle bewusste Selbsteinkehr, denn unabwendbar geschieht letztere von dem Ich schmeichelnden Vorurteilen her; zum mindesten ist einer da auf dieses eine stolz, dass er es fertigbringt, sich selbst als Sünder zu sehen. Bei der Meditation Simenons wäre nun noch das Folgende zu berücksichtigen. Wohl fehlt ihm das Ethos des Künstlers. Da er sich aber andererseits nicht ernst nimmt und wirklich und ehrlich lediglich unterhalten will, so ist er, im Rahmen christlicher Dogmen ausgedrückt, von Herzen demütig und damit Gott näher als jeder noch so Tiefsinnige, der seine Person todernst nimmt. An letzterem kranken nun entsetzlich viele gerade der Deutschen, die den Ruf genießen, wertvolle Menschen zu sein. Innerhalb keines Volkes gibt es insofern mehr Pharisäer gerade der Sorte, welche Jesus unbarmherzig geißelte. Diese Unseligen können nicht verstehen, dass Humor unter allen Umständen nicht allein höheres Menschentum, sondern gerade mehr Tiefsinn beweist als Schwernehmen; ja dass Schwernehmen vermählt mit Ernstnehmen der eigenen Person eines der sichersten Kennzeichen metaphysischer Oberflächlichkeit ist. Denn die Ebene des substantiellen Geistes ist einzig und allein diejenige des Spiels. Nur wer sein Leben auf der Ebene des Lebens als Kunst fundiert hat, wie sie das vorletzte Kapitel des Buchs vom persönlichen Leben bestimmt, nur der hat in seinem Selbst Wurzel gefasst. Wer immer nicht versteht, dass insofern Spielen ein Ernsthafteres ist als Ernstnehmen des Tatsächlichen, ist damit als geistfern oder geistentfremdet erwiesen. Manchmal möchte ich vor Empörung aufkochen, wenn dumpfe Gelehrte aus dem großen Spielmann Gottes, Franz von Assisi, ein ihnen ähnelndes Lasttier machen, oder nicht verstehen, dass es etwas bedeutete, wenn Jesus so gern mit Zöllnern und Ehebrecherinnen Umgang pflog und Buddha mit Vorliebe in Kurtisanen gehörigen Gärten predigte oder wenn Plato des Sokrates Dionysisches hervorhob. Simenon lebt sicher in größerer Tiefeneinstellung zu seiner Person, als irgendein wohlbestallter deutscher Ethiker. Wieviel mehr Tiefsinn bewies die mittelalterliche Kirche als die moderne Wissenschaft! Sie bevölkerte nicht nur die Außenseite ihrer Kathedralen mit Ungeheuern und der Darstellung wenig erbaulicher Lebensepisoden — noch auf dem Chorgestühl gestattete sie derbster Naturfreudigkeit ein richtiges Austoben. Und jüngst hörte ich etwas unmittelbar Entzückendes: das Wort Amethyst — bekanntlich tragen die hohen Würdenträger der Kirche Amethystringe — soll vom Verbum a-methyo (mit dem alpha privativum), das damit heißt: ich werde oder bin nicht betrunken, d. h. ich vertrage viel, kommen, welche griechische Ableitung in deutschen Landen durch die philologisch falsche, jedoch lautmäßig und damit psychologisch bestehende Verwandtschaft von methyo mit Meth einen kräftigen Rückhalt erhielt!

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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