Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

1. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1920

Bücherschau · Steiners Schmährede

Vorstehende Zeilen waren schon gesetzt, als ich in Nr. 21 und 22 der Steinerschen Zeitschrift Dreigliederung des sozialen Organismus (Stuttgart, Champignystraße 17) die Wiedergabe seiner mir dem Hörensagen nach bereits bekannten Schmährede gegen mich zu lesen bekam. Ich möchte allen, die sich für Steiner interessieren, empfehlen, diese nur 40 Pfennige kostenden Heftchen zu erstehen, denn sie wirken im Zusammenhang mit dem, was ich über Steiner gesagt habe, ergänzend. Dass er meine Weisheit blutlos, abstrakt und leer findet und behauptet, er könne immer schon im Voraus sagen, was Leute meines Schlage vorbringen könnten, das Wesentliche meiner Philosophie sei seelische Atemnot, ein innerliches nach Luft schnappen und von Anthroposophie hätte ich keinen Dunst, nicht einmal einen blauen, lasse ich gerne hingehen; genau gelesen hat er mich offenbar nicht, und mit seiner Verurteilung des Denkers, der von allen, welche zählen, am positivsten zur Geisteswissenschaft steht, auf dessen Empfehlung hin ihn viele zum ersten Male ernst nehmen, schneidet er sich ins eigene Fleisch. Aber dass er mich schlankweg einen Lügner schimpft, von gelinderen moralischen Vorwürfen zu schweigen, und dies in einem so unqualifizierbaren Ton, dass die Stuttgarter Hauptzeitung sich veranlasst sah, dagegen als eine Herabwürdigung des Rednerpults, eine Beleidigung der Zuhörerschaft, ja eine Vergiftung der öffentlichen Moral Verwahrung einzulegen, beweist, dass nur zuviel vom Demagogen in diesem Manne steckt; seine Kampfesweise ist häßlich und schlechthin illoyal. Er hakt bei einem ganz unwesentlichen Passus meiner Studie, der keineswegs tadelnd gemeint war, ein — er lautet wörtlich und im Zusammenhang zitiert:

Steiner selbst ist, seinen besten Seiten nach gewürdigt, ein echter Naturwissenschaftler, und kulturgeschichtlich beurteilt, wohl der äußerste Ausdruck des verflossenen naturwissenschaftlichen Zeitalters, das in ihm in ein geistigeres einmündet. Weshalb es nicht gegen, sondern für ihn spricht, und für sein Wesen jedenfalls symbolisch ist, dass seine geistige Laufbahn in gewissen Hinsichten von Haeckel ausging; (Philosophie als Kunst S. 241) —,

und anstatt einen etwaigen Irrtum meinerseits zu korrigieren, was ich mir gern gefallen ließe, denn zu spezieller Steinerquellenforschung habe ich keine Zeit gehabt, was ihm aber in diesem Fall wohl schwer fiele, da seine Studie Haeckel und seine Gegner, soweit ich urteilen kann, beweist, dass er tatsächlich in gewissen Hinsichten von jenem ausgegangen ist, so wenig hier sein Hauptausgangspunkt liege, zeiht Steiner mich schlankweg der Lüge, worin ihn seine Handlanger nachher im Ton noch überbieten. Steiner deshalb gerichtlich zu belangen, was ich wohl könnte, lehne ich ab, denn seit dieser Erfahrung kommt er für mich nur mehr als Untersuchungsobjekt in Frage. Ich berühre den Fall überhaupt nicht, um mich zu verteidigen oder anzugreifen, denn wie immer Steiner zu mir stehe, ich empfinde keine Feindschaft gegen ihn; wie ich 1919 einem seiner Verehrer erlaubte, ein freundliches Urteil über seine Dreigliederungsideen, das ein Privatbrief von mir enthielt, in die Zeitung zu setzen, so habe ich auch keinen Einspruch dagegen erhoben, dass die Darmstädter Anthroposophen ungefähr gleichzeitig mit Steiners Angriffen gegen mich meine wohlwollende Stellung zur Anthroposophie in der Presse als Reklame ausnutzten, und lasse mich seither durch die gegen mich in Szene gesetzte Kampagne (in Heidelberg wurden, einige Tage nach meinem dortigen Vortrag, große Mengen der ominösen Dreigliederungs-Nummer unter den Studenten verteilt) nicht abhalten, für die Sache einzutreten, soweit sie vertretbar ist. Ich berühre den Fall nur deshalb, um an seinem Beispiel recht deutlich zu machen, wie reinlich man zwischen Sein und Können unterscheiden muss.

Von Steiners Sein kann ich unmöglich einen günstigen Eindruck haben; noblesse oblige; wer auf höhere Einsicht Anspruch erhebt, sollte verantwortungsbewusster sein. Aber als Könner finde ich ihn nach wie vor sehr beachtenswert und rate jedem kritikfähigen Geist von psychistischer Beanlagung, die seltene Gelegenheit des Daseins eines solchen Spezialisten auszunutzen, um von und an ihm zu lernen. Ich kenne nicht bloß die wichtigsten seiner allen zugänglichen Schriften, sondern auch seiner Zyklen, und habe aus ihnen den Eindruck gewonnen, dass Steiner nicht allein außerordentlich begabt ist, sondern tatsächlich über ungewöhnliche Erkenntnisquellen verfügt. Für den Sinn fehlt ihm jedes feinere Organ, deshalb muss er alle Weisheit abstrakt und leer finden, die sich nicht auf Phänomene bezieht; aber was er über solche vorbringt, verdient ernste Nachprüfung, so absurd manches zunächst klinge und so wenig vertrauenerweckend sein Stil als Offenbarer seines Wesens wirkt, weshalb ich es lebhaft bedauere, dass sein mir völlig unerwartet gekommenes Vorgehen gegen mich mir die Möglichkeit raubt, mit ihm selber persönliche Fühlung zu nehmen. Denn es bleibt wahr, was ich im gleichen Aufsatz, der Steiners Wut gereizt hat, zu dessen Schutz gegen seine Gegner schrieb, dass ein bedeutender Mensch ausschließlich nach seinen besten Seiten beurteilt werden sollte; das Interesse an seinem Wissen und Können darf durch seine Gebrechen und Fehler nicht beeinträchtigt werden. Am gleichen Tage, an dem ich Steiners Schmährede zugeschickt erhielt, empfahl ich einem Schüler von mir das ernste Studium seiner Schriften und sogar den Eintritt in seine Gesellschaft, da dies mir sein Weg zu sein schien und ich in seinem Fall den Kontakt mit dem Bedenklichen, das mit Steiner zusammenhängt, nicht für gefährlich anzusehen brauchte. Man soll nie vergessen, dass schlechthin jedes Wesen vielfältig ist, dass keine schlechte Eigenschaft die guten entwertet; und dass der Charakter einer Gesellschaft ganz und gar vom Geist ihrer vorherrschenden Mitglieder abhängt. Auch die anthroposophische kann noch eine Zukunft haben, wenn der Dogmenglaube und Sektengeist sie verlässt, wenn sie das unsaubere Agitieren aufgibt und wirklich zu dem wird, was sie statutenmäßig sein soll.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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