Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

26. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1937

Bücherschau · Dr. Erwin Pulay · Der überempfindliche Mensch

Seitdem ich die oben abgedruckte kurze Empfehlung Carrels niederschrieb, ist mir ein anderes Werk eines Arztes bekannt geworden, das ich in jedermanns Händen wünschte: Dr. Erwin Pulays Der überempfindliche Mensch (Wien 1936, Otto Lorenz Verlag). Es enthält erstens das Neueste und Wichtigste über die Rolle der Hormone in der Dynamik des organischen Lebens. Darüber hinaus aber grundsätzliche Erkenntnisse, die mir zum Teil neu waren und von größter Allgemeinbedeutung scheinen, auch im psychologischen Zusammenhang, und dieses wiederum nicht allein des individuellen, sondern auch des kollektiven Lebens. Ungern greife ich der Lektüre des ganzen Werkes vor. Immerhin seien, in der Hoffnung, dass dies das Interesse für das Ganze wecken wird, zwei Punkte hervorgehoben. Der erste betrifft die Überempfindlichkeit als Vorbedingung aller höheren Begabung sowohl als aller Kultur. Solange, oder wo immer ein Mensch oder ein Volk sich alles wahllos anzueignen vermag, assimiliert es nicht eigentlich, sondern es passt sich bloß äußerlich an, und da auf dieser äußeren Anpassung der Nachdruck ruht, so spielt das Eigenste im Gesamtbild eine geringe Rolle. Auf der medizinischen Ebene äußert sich dies in Unindividualisiertheit, auf der sozialpsychologischen in der Herrschaft von Zivilisation im Gegensatz zu Kultur. Letztere entsteht nur dort, wo das Tiefste und Eigenste aufgerufen und ergriffen ist. Ist letzteres aber geschehen, dann tritt geistig-seelisch die gleiche Überempfindlichkeit gegen nicht assimilierbares Fremdes in Erscheinung wie sonst beim Körper, der anaphylaktisch auf den neuerlichen Einfluss vormals gut vertragener Substanzen reagiert. Woraus sich denn die bekannte Überempfindlichkeit jedes Hochbegabten und Schöpferischen sowohl als die Tatsache, dass ein solcher entweder gegenüber Einflüssen, die ihn nicht fördern können, undurchlässig ist, oder aber dass sie als richtige Gifte auf ihn wirken, als Naturnotwendigkeit ergibt. Völkerpsychologisch aber folgt aus dem gleichen, dass Kulturbildung physiologisch ausgeschlossen ist, solange alles Streben auf schnelle Aneignung anstatt auf gründliche Einfühlung aus ist. Im letzteren Zusammenhang enthält Pulays Buch sehr lehrreiche Betrachtungen über den Unterschied zwischen Anpassung und Einpassung.

Bemerkenswerter noch als das Gesagte ist aber das folgende: es ist jetzt wissenschaftlich erwiesen, dass jeder Mensch tatsächlich ein zweigeschlechtliches Wesen ist. Innerhalb dieses aber beruht alles Aufbauende, alles Bildende, Synthetische, Vollendende auf der Wirksamkeit des weiblichen und nicht des männlichen Hormons. Dies geht so weit, dass männliche Impotenz meist auf Schwäche des weiblichen Hormonteils im Manne beruht. Aus den weiteren Feststellungen und Gedankengängen im Rahmen dieses Zusammenhangs scheint nun zu folgen, dass extrem männliche Zeitalter wesentlich nicht aufbauend, sondern zerstörerisch sind und den Keim der Selbstzerstörung in sich tragen. Aller Aufbau erfolgt von der Nacht, von der Stille, von der Intimität, vom weiblichen Prinzip her und darum zunächst im kleinen.

Was von vornherein groß konzipiert ward, kann nicht dauern. Deswegen siegte seinerzeit der weibliche Geist der Katakomben über den des Kolosseums. Darum bedeutet der Krieg und mit ihm die Zerstörung das eigentlich Mannesgemäße. Nur als Anreger ist der Mann schöpferisch; dies gilt von der physischen Zeugung bis zum Logos spermatikós. Aber die Anregung zu Neuem bedingt in erster Instanz selber Zerstörung. Hieraus erklärt sich die Erfahrungstatsache, dass alle schöpferischen Naturen unter Männern ohne Ausnahme durch feminine Züge charakterisiert gewesen sind.

Da es mir nun aber allzu häufig passiert ist, dass günstige Urteile von mir, die ich am liebsten immer ohne Einschränkungen ausspreche, so aufgefasst werden, dass nun alles am betreffenden Buche gut sei und dass gar, falls es Praktisches betrifft, diese Praxis eine Panazee darstelle, so muss ich zum Abschluss dieses Abschnitts noch das Folgende sagen. Erstens: Die Wissenschaft von den Hormonen steht noch ganz am Anfang, über eindeutige Erkenntnisse verfügt sie noch kaum. Die Ärzte, die durch reine Hormonbehandlung große Erfolge erzielen, erzielen sie bis heute vor allem dank ihrem Heiler-Charisma; es sind dies Menschen, die in gleichem Sinne ursprünglich richtig in Hormonen denken, wie andere in der Sternensprache; Olga von Ungern-Sternberg z. B. hat oft richtige Bestimmungen und Ratschläge auf Grund wissenschaftlich falscher Horoskope gegeben. Zweitens. Selbstverständlich liegen die Dinge nicht so, dass Geist und Seele als solche eine hormonale Grundlage hätten, noch dass jede Beschwerde durch Drüsenumstimmung zu beheben wäre. Dies sage ich, weil einige Vertreter der neuen Schule schon in den grundsätzlich gleichen Fehler zu verfallen scheinen wie Freud, der alles auf Sexualität zurückführte. Sogar Pulay öffnet hier in einem Fall, vielleicht nur dank ungenauem Ausdruck, verderblichem Missverstehen Tür und Tor. Zweifellos ist vom Standpunkt der Hormone der vegetative Mensch der Tiefenmensch. Aber das bedeutet nicht, was Pulays Worte zu glauben manchmal nahelegen (vgl. z. B. S. 160), dass nun die physiologische Tiefe mit der geistig-seelischen zusammenfällt. Im Gegenteil: gerade hier offenbart sich die tragische Spannung zwischen Menschen-Geist mit Menschen-Natur am schroffsten. Die physiologische Tiefe steht mit dem geistigen Kern nahezu außer Zusammenhang. In Wahrheit legen die zauberhaftesten Erfolge der Hormontherapie keinerlei Materialismus (denn das bedeutete die Anerkennung des Primats des Hormonzustandes im Gesamtmenschen) und Monismus nahe, sondern sie erweitern nur unseren bisherigen Erkenntnisstand dahin, dass der Zusammenhang der Blutdrüsen eine besonders wichtige Koordinate des unzurückführbar vielfältigen Menschenwesens darstellt, eine Koordinate, bei der sich unter Umständen besonders gut ansetzen lässt. Doch je mehr das Geistige und Seelische in einem Menschen überwiegen, desto mehr ist der Hormonspiegel Ausdruck, sekundäre Folge, wenn nicht gar Außenwelt schlechthin. Ja, hier kann sich die Produktivität des Unzulänglichen (vgl. Menschen als Sinnbilder) besonders eindrucksvoll erweisen. So beruht mein Vorwärts- und Höherkommen, ja mein ganzes späteres geistig-seelisches Niveau nichts anderes als das Produkt der Überwindung einer hormonal sehr unzulänglichen Anlage durch Wille und Phantasie. Der Arzt, welcher letztere wieder auf Hormone zurückführen wollte, erwiese sich damit als trister materialistischer Stümper. Vielmehr liegen hier die Dinge folgendermaßen: auch hormonale Dysharmonie, genau wie äußere Schwierigkeit, kann die Anregung bedeuten, deren ein Geist bedurfte, um zu seiner ganzen Höhe zu erwachsen. Seine Bedeutung war insofern an sein physiologisch Krankhaftes gebunden — wenn auch freilich später Zeiten eintreten können, wo er dessen nicht mehr bedarf und es, soweit als möglich, ausheilen wollen wird. Aber dann würde eben der geistige Entschluss bei der Umstimmung das Entscheidende sein, und der Hormonpraktiker, der diesen Zusammenhang nicht versteht, wird Geist- und Seele-bestimmten Menschen niemals helfen können. Dadurch, dass er sie seelisch verstimmt, wird er günstige Umstimmung auch vom Körper her vereiteln.

Grundsätzlich nun gilt nach wie vor, dass jede Schicht des Menschen möglichst gesondert, ohne Seitenblick auf andere mit den ihr entsprechenden Mitteln behandelt werden sollte; bei der Vielheit dieser Schichten, von denen jede von sonderlichen Gesetzen beherrscht wird, ist dies zum mindesten das sicherste Verfahren, auch in Hinsicht auf den Gesamtzusammenhang. Denn wird eine erkrankte Schicht mit den ihr gemäßen Mitteln wirklich geheilt, so ergibt dies beinahe immer eine Gesamtverschiebung des organischen Gleichgewichts im positiven Sinn. Hier nun habe ich jüngst eine neue Erfahrung gemacht, von der ich öffentlich berichten möchte, da sie frühere öffentliche Äußerung berichtigt. In den (von einander verschiedenen) Gesundheits-Kapiteln der Vie Intime und des Buchs vom persönlichen Leben habe ich vor salzloser Kost sehr ernst gewarnt, weil diese die Vitalität schwäche. Damals kannte ich Professor F. Volhards Diät noch nicht: was mir früher verschrieben worden war, war Salzlosigkeit plus Verzicht auf Fleisch, Alkohol, Kaffee und Gewürze wie Senf und Pfeffer. Professor Volhard nun riet mir, seine salzlose Diät zu versuchen, die dem Patienten im Fall der meinen ähnlicher Konstitution und falls keine direkte Krankheit vorliegt, schlechthin alles zu essen erlaubt, ja Kaffee-, Fleisch- und Gewürz-Genuss ermutigt, und nur die eine chemische Verbindung Chlornatrium radikal verbietet. Ich folgte seinem Rat. Und siehe da: unter dieser salzlosen Diät litt meine Vitalität überhaupt nicht. Mein Blutdruck aber sank rapide, ich wurde körperlich beweglicher, als ich je früher gewesen war, mein gesamter Stoffwechsel funktionierte fortan besser (wozu freilich das Zaubermittel Allisatin nicht wenig beigetragen haben mag), ich fühlte mich sehr viel wohler. Diese Diät kann ich älteren vollblütigen Menschen mit Neigung zu hohem Blutdruck aufrichtig empfehlen. Professor Volhard (der übrigens jahrelang unser Mitglied war) hat selbst, zusammen mit Friedrich Borkeloh, dem vormaligen Küchenchef des Städtischen Krankenhauses Sachsenhausen in Frankfurt am Main, ein entsprechendes Kochbuch herausgegeben, das unter dem Titel Die Kochsalzfreie Krankenkost, unter besonderer Berücksichtigung der Diätetik der Nieren-, Herz- und Kreislaufkranken nun schon in fünfter Auflage im Verlag Johann Ambrosius Barth in Leipzig erschienen ist.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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