Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
26. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1937
Bücherschau · Leopold Ziegler
Es hängt mit jener Ei-Haftigkeit, die ich im Kapitel Weltfrömmigkeit
des Buchs vom persönlichen Leben geschildert habe, zusammen, dass keine Literatur so viele Werke enthält, die den Prozess der Verarbeitung ihres Stoffes zum Ausdruck bringen, und nicht deren Endergebnis, wie die deutsche. Reine Endergebnisse verkörpern alle bedeutenden Werke des französischen Schrifttums; daher dessen besonderer Klarheits-Standard. Die meisten bedeutenden Werke anderer europäischer Völker lassen wenigstens ein Streben nach dem gleichen Vollendungs-Ideal erkennen. Die beispiellose Rezeptivität des Deutschen hingegen bringt es mit sich, dass er vielfach im Aufnehmen selbst das Ziel sieht — wie Lessings Nathan in der Wahrheits-Suche —, weswegen er gar nicht nach Vollendung strebt. Dies gilt sogar von Goethe, trotz seiner ungeheuren Gestaltungskraft; denn das Wesentliche an ihm war die bewegte Linie seines allezeit neuen Stoff verarbeitenden Lebens, nicht ein bestimmtes Meisterwerk, wie Iphigenie, in der jeder Franzose den Sinn seines Schaffens erblickt hätte; welche Linie dann mit dem zweiten Teil des Faust auf der Ebene der Kunst als großartiges Fragment, welches eben Fragment bleiben und schier beliebig enden musste, im Geiste wiedergeboren ward. Es gilt von allen deutschen Philosophen ersten Ranges. Es gilt in hohem Grad vom Wahl-Deutschen Houston Stewart Chamberlain, bei dem das Angelesene das Eingefallene weitaus überwog, welcher schlechterdings abhängig war von seiner jeweiligen Lektüre und in deren popularisierender Verarbeitung seine eigenste Form fand. Es gilt von mir selber, sofern mein Geist sich an Kontinenten und Völkern entzündet und jedes Buch eine sonderliche und unvertauschbare Erlebnisbasis hat. Ich kenne aber keinen Deutschen, bei dem sich besagte Eigentümlichkeit so karikiert-extrem äußerte wie bei Leopold Ziegler.
Es äußerte sich schon im Gestaltwandel der Götter; doch damals, als der Saft in ihm noch stieg, behaupteten Idee und Formungswille noch in hohem Grad, gegenüber dem ungeheueren Stoffe, ihre überlegene Selbständigkeit. Der erste Band des Heiligen Reichs der Deutschen offenbarte sogar große Linienführung. Doch mit dem zweiten Band des gleichen Werks beginnt die Festlegung in der Gestaltung oder Un-Gestaltung, die neuerdings in Überlieferung (Leipzig 1936, Jakob Hegner Verlag) einen schwer zu übersteigenden Höhepunkt erlebt hat; mühsam setzte sich dort Ziegler, ungeachtet der Grundidee, von der er ausging, mit just Gelesenem auseinander, so dass vom Reingewinn gegenüber dem Umsatz wenig spürbar blieb — nicht immer, weil er nicht da gewesen wäre, sondern weil er als solcher ungefasst verblieb. Nun aber Überlieferung! Wie ich mich durch dieses Werk durchzuackern begann, da hatte ich von vornherein den Eindruck, einem Regenwurm zu folgen, der sich durch das Erdreich buchstäblich hindurchfrisst, seinen Weg vom Mund zum Darm hinabschlingend und von Etappe zu Etappe ausscheidend. Nahezu alles, was es an Mythen und Riten und Glaubensformen und Dogmen und Durchdenkungen ihrer gibt, verzehrt Leopold Ziegler langsam und bedächtig, kauend, gelegentlich auch wiederkäuend. Außer Kleinigkeiten — wirklich Kleinigkeiten — bleibt aber dem Leser die längste Zeit über nichts, was er sich aus den Quellen selber, oder besser einem geringen Teile ihrer, nicht besser, d. h. geistgemäßer, hätte aneignen können. Der Stil entspricht dem Prozess, doch muss hier gleich hinzugefügt werden: als solcher ist er meisterhaft. Ich wüßte nicht, wie diese besondere Art durchfressenden Denkens entsprechenderen Ausdruck finden könnte als in dem steifen, holperichten, harten, der Holzschnittechnik gemäß sezierenden und artikulierenden, schwere Worte, mühsame Wendungen bevorzugenden Stil, der eben der Stil Leopold Zieglers ist. Hier hat die mögliche Sonderart des deutschen Geistigen, im Aufnehmen als solchem Genüge zu finden, in der Tat ihren bisherigen Extremausdruck gefunden. Man möchte das Römerwort mens gravitat molem auf Ziegler hin umkehren — wenn nur in der Umkehrung die Tatsache unverfälscht bestehen bleiben könnte, dass auch solche Form echter Geistesausdruck sein kann.
Ist nun das Buch ganz ergebnislos vom Standpunkt dessen, dem nur am durchgeistigten Endergebnis liegt? Das nicht. Erstens finden sich gegen Ende wirklich schöne Sonderbetrachtungen, insonderheit über den Glauben. Es sind dies, wie überall im Fall von Leopold Zieglers Bestem, nicht denkerisch, sondern lyrisch bestimmte Stellen. Auf der ersten Darmstädter Weisheitstagung, da Ziegler redete, verglich ich das Instrument, das er in unserem Geistes-Orchester vorstellte, mit einem silbernen Horn von rührendem Klang. Es sind nur wenige Töne, die bei Ziegler original klingen, aber diese sind schön und süß und echt und rein. Gerade als Philosoph ist Leopold Ziegler insofern Lyriker. Sein Ewiger Buddho ist als Philosophie und Religion unmittelbar belanglos, da es jedoch stimmungsmäßig Schönes enthält, ist das Buch doch nicht als unbedeutend abzutun. In Überlieferung unternimmt er am Ende gar eine metaphysische Konstruktion: dieses Buch klingt in eben dem Postulat eines überkonfessionellen, alle möglichen Religionen und Metaphysiken auf höchster Ebene zusammenfassenden Katholizismus aus, das ich auf der Tagung Weltanschauung und Lebensgestaltung
, an der auch Leopold Ziegler teilnahm, zuerst fundiert und ebensoweit artikuliert hatte, wie es nun 13 Jahre später dieser, selbstverständlich ohne mich zu nennen, gleichsinnig zu tun versucht. Doch Zieglers Schlusskonstruktion überzeugt nicht. Erstens weil die Masse des unterwegs Aufgenommenen zu groß ist, um von der Zieglerschen Form gemeistert zu werden. Dann auch, weil bis zum Ende fraglich bleibt, ob Ziegler nicht doch tiefsten Herzens, wenn auch noch nicht ausgesprochenermaßen, christlich-katholischer Konvertit ist. Immerhin: auch hier finden sich lyrisch-schöne Stellen. Ich betone noch einmal hier das Lyrische, weil Ziegler religiös nicht eben tief begabt ist und — echt deutsch — sehr oft andächtig schwärmt
, so wie es Lessing hieß, wo reales Erleben allein frommen würde. Aber dieses Lyrische hat seinen besonderen Reiz gerade von wegen des ungeheuer schweren Materials, welches es schmückt.
Warum schrieb ich nun über Leopold Ziegler so lang? Zweifellos wird er als Geist seitens derer, denen er kongenial ist, meistens überschätzt. Viel geistig-Eigenes vertritt er nicht, und das empirisch Sonderliche bei ihm kann nur den ansprechen, welcher Leopold Ziegler empirisch ähnlich ist. Das nun aber gilt von sehr vielen Deutschen. Und denen möchte ich zum Schluss Leopold Ziegler gerade ob der wirklichen Bedeutung, die er hat, nicht als Ideal, sondern als abschreckendes Beispiel vorstellen. Denn wenn es einem Ziegler zu verzeihen ist, wenn er seine Leser zwingt, sich mit ihm durch übergroße Stoffmengen hindurchzufressen, bei welchem Prozess es dann im Wesentlichen bleibt — unterwegs gewinnt man immer etwas dabei, nicht nur Kenntnisse, sondern auch Anregung durch die sprachliche Leistung —, so sollte kein Geringerer es wagen, mit so viel Rohmaterial, mit so viel bloßem Umsatz und mit relativ so wenig Reingewinn aufzuwarten: grundsätzlich hört Leopold Ziegler dort auf, wo geistige Durchdringung allererst beginnt.