Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
26. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1937
Bücherschau · Frank Thiess, Albert Thibaudet
Wie die regelmäßigen Leser dieser Mitteilungen wissen können, gibt es kaum einen schlechteren Romanleser als mich. Mit allen Poren aller Wirklichkeit aufgeschlossen, doch nur von deren unmittelbarem Einfluss ergriffen, habe ich kein Organ für Nach-Erzählung. Solche kann mir immer nur Ersatz
bedeuten, keine Kunst ersetzt mir je mögliche Natur und die Kunstform als solche interessiert mich in diesem Falle nicht, da ihr die Reinheit fehlt, die rein ästhetische Betrachtungen fordert. Mein eigenes Leben ist zu reich, die Art, wie ich es erlebe, bedeutet selber zu sehr Dichtung, als dass ich hier ein Ergänzungs- oder Bereicherungsbedürfnis empfinden könnte. Dazu kommt, dass mir von jeher jede Neugier fehlt und ich eine direkte Antipathie gegen das Mit-Wissen um fremde Liebesgeschichten fühle. So muss ich mir den Vorwurf gefallen lassen, ein ausgesucht schlechter und insofern wenig urteilsfähiger Romanleser zu sein.
Darum schreibe ich sehr selten über Romane als Kunstschöpfungen; was mich an Romanen interessiert, ist gegebenenfalls ihr Psychologisches, Philosophisches, sowie das Erfahren von sonst Unzugänglichem, das mich bereichern kann. Und auch im Falle solch mittelbaren Interesses bin ich nicht so gefesselt, wie ich’s sein sollte: so wenig liegt mir die Romanform als solche. Das wissen auch meine Romane schreibenden Freunde und nehmen es mir nicht übel. Nicht übel nimmt es mir zumal mein alter Freund (und unser treues Mitglied) Frank Thiess, den ich persönlich so sehr gern sehe, den ich aber vor der jetzt zu behandelnden Ausnahme nur wenig und oberflächlich gelesen habe. Nun aber muss ich über ihn schreiben: er ist nämlich plötzlich zu einem ganz anderen erwachsen, als was er früher erschien: zu einem monumentalen Epiker. Sein neues Buch Tsushima (Wien 1936, Paul Zsolnay Verlag) ist ein gewaltiges Werk. Darüber hinaus aber stellt es eine neue Kunstgattung dar, deren Form mir ebenso glücklich und vollendet scheint, wie ich die des Romans als unbefriedigend und vorläufig empfinde.
Frank Thiess erzählt da die Epopöe der Fahrt des Admirals Roschdestwensky im Russisch-Japanischen Kriege um ganz Europa und Asien herum bis nach Japan, wo seine Flotte selbst nach Odysseehaften Schwierigkeiten unterwegs den Tod fand. Thiess erzählt sie mit schwer zu übertreffender Schlichtheit, aber in lapidarem Stil. Keine Abwege, keine Exkurse, keine Verbrämungen, keine farbigen Episoden, überhaupt keine von der Größe des Gesamtbildes nicht geforderten Einzelheiten; keine Betrachtungen, die nicht das Gesetz des Epos selber vorschriebe. Nichts spürt man hier vom üblichen Hin und Her des Romanciers, nichts zumal von jenem brouillon zu einer Philosophie
, als welche ich so viele deutsche Romane ansprechen muss. Was aber das Ich des Schreibers betrifft, so erfüllt hier Frank Thiess mit seltener Vollendung das Gebot Gustave Flauberts: L’auteur ne doit pas plus paraître dans son œuvre, que Dieu dans la Nature
. Wer der Schreiber als Person ist, merkt man eigentlich nur an der tiefen verstehenden Verbundenheit mit seinem Stoff: nur ein Balte konnte die Todesfahrt der russischen Flotte so nachzeichnen; nur ein solcher, der in den Tiefen seiner Seele, trotz allen Deutschtums, dem russischen Imperium zugehört, dank seinem Deutschtum aber wiederum eine Distanz zum Russischen bewahrt, die kein Russe einhalten könnte. Ich kenne in der ganzen Weltliteratur kaum eine bessere Schilderung zaristisch-russischer Sonderart, als man sie in Tsushima findet. So rollt denn das Epos dahin, wie die großen stillen Wogen des Pazifik, und die katastrophalen Ereignisse, die es wieder und wieder schildert, wirken da wie das schicksalsmäßige Brechen der gleichen stillen Wogen über Riffen. Das Ende wiederum aber ist wie ein großes Auslaufen, das mit stiller, friedlicher Rückflut abschließt. Zu diesem Werk kann ich Frank Thiess nur einen ergriffenen Glückwunsch aussprechen. Weitere Worte erübrigen sich. Dieses Buch sollte jeder lesen, welcher fähig ist, menschlich-geschichtliche Ereignisse als Teil kosmischen Werdens zu erleben…
Das Gesetz der Duplizität der Fälle bewährt sich übrigens auch hier. Ungefähr gleichzeitig ist in Frankreich auch ein Epos erschienen, das ein ebenso Neuartiges, ja vielleicht ein noch Neuartigeres darstellt als Frank Thiess’ Tsushima. Das ist Albert Thibaudets Histoire de la Littérature Française de 1789 à nos jours (Paris 1936, Librairie Stock). Mir liegt Literaturgeschichte so wenig, dass es des dringenden Zuratens Maurice Delamains bedurfte, welcher dem Nachlass (um einen solchen handelt es sich, Thibaudet starb vor der Vollendung) mit Hilfe einiger anderer in ebenso mühsamer wie vorbildlicher Redaktionsarbeit die Endform gegeben hat, damit ich das Buch überhaupt zur Hand nahm. Dann aber war ich dermaßen gefesselt, dass ich weiter las, bis dass ich das ganze Buch in mich aufgenommen hatte. Albert Thibaudets angebliche Literaturgeschichte ist nämlich überhaupt keine solche im üblichen Verstand: es ist das in lapidarer Kürze mit größter Schlichtheit und zugleich mit wunderbarem Blick für die großen Zusammenhänge nacherzählte Epos des französischen Geists, wie dieser sich in der Literatur spiegelt — und bei den Franzosen, dem nach dem chinesischen literarischsten Volk, spiegelt sich beinahe der ganze Geist in ihr. Will man hier überhaupt von abstrakter Ordnung des Materials reden, so kann man allenfalls eine solche nach dem Gesetz der Generation
(Pinder) feststellen. Doch man verweile ja nicht bei dieser Feststellung: das Einzigartige ist, dass hier ein Literatur-Kritiker — Thibaudet galt zuletzt als bedeutendster Kritiker der französisch sprechenden Welt — den Kritiker in sich überstiegen und von der Kritik her ein fesselndes, vielfach begeisterndes lebendiges Epos geschaffen hat, in dem die Männer und Frauen eine ähnliche Rolle spielen wie die Seehelden in Tsushima und die Werke eine ähnliche wie Togos und Roschdestwenskys Schlachtschiffe. So wirkt diese Literaturgeschichte als einzige unter den mir bekannten tief sinnvoll: sie hat eben die Sinnfülle des Epos, allwo das Alltägliche gleichberechtigt neben dem Außerordentlichen steht und das Dasein des göttlichen Dulders Odysseus das des Sauhirten Eumaios nicht entwertet.