Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

26. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1937

Bücherschau · Marika Norden · The Gentle Men

Mit Recht gelten die Briefe der Mariana Alcoforado, der portugiesischen Nonne, die Rainer Maria Rilke aus der zuerst bekannt gewordenen französischen Ausgabe von 1669 in herrliches Deutsch übertragen hat (Insel-Bücherei Nr. 74, Leipzig, Insel-Verlag, Preis 80 Pfennig) zu den schönsten Beispielen der Liebesbrief-Literatur. Wunderbar ist der Anfang, wo die Frau sich von der Klausur her in einen Ritter auf dem Turnier verliebt. Zu allen Zeiten half sich im Fall von Sitten, die ein Kennenlernen junger Leute erschwerten, Gott Amor so, dass die geringste Annäherung, ja bloßer Anblick, mehr bedeutete als unter Zwanzigjährigen von heute Geschlechtsverkehr. Aber so ergreifend wie jene Nonne haben wenige die Tragik ausweglosen Gefühls zum Ausdruck gebracht. Und der Ausklang der Briefe in bittre Vorwürfe stört das Pathos nicht, weil hier in großartiger Unbefangenheit die Urnatur des Weibes zum Ausdruck kommt. Zu dieser Unbefangenheit ist jüngst nun ein Gegenstück erschienen: das Buch The Gentle Men der Norwegerin Marika Norden, veröffentlicht von der Obelisk Press, 338 rue Saint-Honore, Paris (Preis 50 französische Franken). Dieses Buch eines ausgesprochen nordischen Weibes atmet nichts von der religiösen Inbrunst der portugiesischen Nonne; es ist sehr heidnisch, sehr erdhaft, und das Pathos, das im Gegenstand liegt, wird durch Zynismus und Ironie zerstört. Aber welche psychologische Tiefe! und welch beißende Ironie! Das Buch besteht aus vier Briefen an ehemalige englische Geliebte, mit denen sie auseinandergekommen war. Jeder dieser Gentleman ist durchaus verschieden; der erste ist ein Weltmann, der zweite ein Ästhet, der dritte ein naiver jungverheirateter Boy, der vierte ein träumerischer Ire. Aber alle gehören eben dem (vom Standpunkt des Nicht-Briten aus beurteilt) genau gleichen Grundtypus an. Und es ist eine wahre Lust zu sehen, wie Marika Norden da die schöne Fassade des Gentleman zerstört und aufzeigt, wieviel Herzensroheit, Oberflächlichkeit und in den meisten Fällen auch caddishness die schöne Form verdeckt. Im allgemeinen heißt es ja, der Engländer sei im Privatleben höchst ehrenhaft, als Politiker jedoch vollkommen skrupellos. Aus Marika Nordens Enthüllungen erhellt, dass der Engländer überall dort der skrupelloseste aller Menschen ist, wo er als Jäger auftritt; was natürlich besonders Frauen gegenüber, die er nicht heiratet, der Fall ist. Als Gesamtbild ergibt sich daraus, dass das Gute im Engländer nur dort zutage tritt, wo er anerkannte Spielregeln einhält, wie er denn seiner Partei (im weitesten Verstande) gegenüber immer vollkommen loyal ist, nämlich im Sinn von Galsworthys Loyalities; dass er aber der gewissenloseste aller Menschen ist, wo er zu seinem Gegenspieler in keinem Solidaritätsverhältnis steht. Von der Politik her sollten wir heute alle ein für alle Mal Bescheid wissen: England ist schuld am Raube aller deutschen Privatvermögen, England an der Weißblutung Spaniens. Aber eine Grundhaltung kommt in intimen Beziehungen doch am ausgesprochensten zum Ausdruck und darum sind Marika Nordens Enthüllungen von ganz außerordentlichem Interesse. Bei der Lektüre von The Gentle Men habe ich endlich ganz verstanden, was der Engländer unter sense of humour versteht. Dass es nichts mit Humor in unserem Sinne oder Witz zu tun hat, war mir schon lange klar. Ebenso, dass sein Wesen im Nicht-Ernst-Nehmen liegt. Doch genau inwiefern dies der Fall ist, habe ich erst jetzt begriffen. Der sense of humour bedeutet die Einstellung dessen, der alles und jedes mit der Ironie betrachtet, welche ein harter Herr leidenden Sklaven gegenüber hat, die er mit gutem Gewissen ausnutzt. Ich wähle diese Spezifizierung, weil deren Anschauung am plastischsten deutlich macht, worauf es ankommt; in Wahrheit handelt es sich hier um die typische Ein-Stellung des Nur-Herrn überhaupt. Man darf nichts ernst nehmen, was man nur behandeln, ausnutzen und beherrschen will. Insofern muss der Nur-Herr auch sich selbst gegenüber ironisch sein. Das erklärt denn das typische Zusammenbestehen beim Engländer von Nicht-ernst-Nehmen mit äußerstem Hochmut, äußerstem Eigennutz und äußerstem Egoismus; es ist nämlich absolut nicht Bescheidenheit, die dem Engländer sein Ich nicht ernst nehmen heißt; in Wahrheit ist der Brite von allen Europäern der unbescheidenste und vordringlichste. Der Besitz und das Zeigen von sense of humour ist einfach die Spielregel, die der harte Herr zu befolgen hat, um die ganze Welt, sein eigenes empirisches Ich inbegriffen, als seine Untertanen betrachten und behandeln zu können. Daraus folgt einerseits, dass der Engländer wirklich geborener Menschen- und Völkerbeherrscher ist. Andererseits jedoch, dass er wie kein zweiter oberflächlich sein muss, wo gerade darauf der Bedeutungsakzent ruht, was die englische Konvention nicht ernst zu nehmen gebietet, denn das ironische Verhalten, das ihm Ideal ist, fordert Nicht-Versenken, Nicht-Eingehen, Nicht-Bemerken. Nie kann einer darum bei solcher Einstellung Wesentliches verstehen, geschweige denn innerlich realisieren. Seitdem ich das ganz verstanden habe, bin ich stolz, dass mir von Angelsachsen wieder und wieder mangelnder sense of humour vorgeworfen wird: Ein Philosoph, der diesen besitzt, müsste nicht nur ein Esel, sondern ein Maultier sein. Was ich hier schreibe, fiel mir bei der Lektüre des besprochenen Buches ein, dieses selbst sagt nichts direkt darüber. Wohl aber zeigt es mit wunderbarer Klarheit, wie oberflächlich der Engländer sich in allen menschlichen Beziehungen erweisen muss, und wie sehr der sense of humour nicht nur Rücksichtslosigkeit, sondern seelische Gemeinheit fördert.

Über das Völkerpsychologische hinaus aber bietet Marika Nordens Buch — hierin wieder mit der Verfasserin der portugiesischen Briefe konvergierend — eine, soweit meine Literaturkenntnis reicht, einzigartig klare Herausarbeitung dessen, wie jeder Mann in nicht verantwortender Liebesbeziehung der Frau erscheinen muss. Und es enthüllt überdies mit nicht zu überbietender Offenkundigkeit die Wesensart der unersättlichen Frau — in der Liebe ist nämlich jede von Natur aus unersättlich. Dieses noch sehr wenig bekannt gewordene Buch ist in vielen Hinsichten nicht nur ein Unikum, sondern ein Meisterwerk. Es ist glänzend geschrieben, und der oft schamlose Inhalt wirkt dank der Verfasserin Formbegabung niemals unästhetisch.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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