Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
26. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1937
Bücherschau · Das Buch der Keyserlinge
Den Schluss der diesjährigen Bücherschau bilde eine Betrachtung pro domo. Und zwar pro domo im eigentlichen Sinn des Worts: es handelt sich wirklich um mein Haus
und nicht um mich. Im Herbst des vorigen Jahres trat mein Vetter Robert an diejenigen unter den älteren lebenden Keyserlings, deren Leben Mitteilenswertes enthielt, mit dem Vorschlage heran, zum Besten unserer Familienstiftung zusammen ein Erinnerungsbuch zu schreiben, das zugleich eine Behauptung der Familieneigenart darstellen würde. Wir sagte alle freudig zu. Und so hat denn der S. Fischer Verlag in Berlin Das Buch der Keyserlinge herausgebracht.
Ich geniere mich nicht zu empfehlen, weil ich pro domo rede. Tatsächlich: das Buch ist ein Unikum, und aus irgendeinem der vielen Gründe wird jeder es mit Gewinn sowohl als Freude lesen. Von Vetter Robert wird er Interessantes aus Kaiser- und Weltkriegszeit, von Vetter Heinrich historisch Interessantes über seine Ostasienfahrt als Begleiter des russischen Thronfolgers, später Zaren Nikolaus II., vor allem aber über Glück und Ende seines Walfischfängertums im Ochotskischen Meer, von Vetter Alfred Ergreifendes aus der Zeit seiner Gefangenschaft im Kerker der G.P.U. in Sibirien und seine wundersame Rettung von dort, von Vetter Walter und Vetter Archibald psychologisch ungewöhnliche Seemannserinnerungen, von Leonie von Ungern-Sternberg, meiner Schwester, wunderbar distanziert gesehene Bilder aus estländischer und chinesischer Zeit, von mir den meisten Unbekanntes von Begegnungen mit bedeutenden Menschen in diesem Bande finden. Die Fassung, welche die verschiedenen Steine zur Einheit zusammenfasst, bildet die historische Einleitung des Freiherrn Otto von Taube, dessen Mutter gleichfalls eine Keyserling, eine Schwester meines Vaters war, und die, obschon leider nicht so konkret-evozierend geraten, wie ich’s erhofft hatte, insofern ein Muster darstellt kulturhistorischer Schilderung, weil sie aufzeigt, worin Geschlechtseinheit besteht: sie ist nämlich ein Geistiges; was wir Keyserlings seit nun bald zweieinhalb Jahrhunderten waren, verdanken wir der Pflege ganz bestimmter Tradition. In Taubes Einleitung kommen vor allem die hochbegabten Keyserlings des 18. Jahrhunderts zur Geltung, von denen einer Friedrichs des Großen nächster Freund, ein anderer Johann Sebastian Bachs Hauptmäzen, ein dritter der Hauptförderer Kants war, und aus dem XIX. vor allem mein Großvater, der weise Naturforscher, und der Dichter Eduard.
Doch das Förderndste an der Lektüre dieses Buches sind, wie gesagt, nicht die angedeuteten historischen Einzelheiten, sondern der gemeinsame schöpferische Sinn, der ihnen allen zugrunde liegt: eine mehr als zwei Jahrhunderte lang bewiesene und damit als vererbbar erwiesene Begabung und Gesinnung bestimmter Art. Das Motto, das Baron Taube aus dem éloge de Monsieur de Keyserlingk
Friedrichs des Großen der Einleitung vorgedruckt hat, könnte ich auch für mich als Motto anerkennen. So verschieden die Betätigungen und auch die Temperamente von Einzelnem zu Einzelnem waren — der Grundgeist war bei allen der gleiche. Und er ist es auch noch bei den verschiedenen Mitarbeitern dieses Buchs. Sollte dies nicht Rassebiologen und Kulturpsychologen zu näherer Untersuchung anregen? In dem Erinnerungswerk, dessen Einführung vorliegendes Heft enthält, habe ich persönlich einiges in dieser Richtung unternommen; insbesondere über das Problem der Virulenz bestimmter Familientypen im Unterschied von anderen, und über den Sinn der Vererbbarkeit von Begabung überhaupt Betrachtungen angestellt. Doch hier könnte und sollte auch exakte Forschung einsetzen. Kennzeichnet nicht alle echten Keyserlings ein bestimmter Hormonspiegel? Hat unsere besondere philosophische Detachiertheit und Weitherzigkeit, unsere spezifische Weiträumigkeit, die sich im Schicksal der meisten ausdrückt, nicht auch physiologische Grundlagen? Bekanntlich geriet ich während der Götterdämmerung des Baltentums in Konflikt mit den meisten meiner Standesgenossen, weil ich gegen eine reichsdeutsche Lösung war, die ich für praktisch ausgeschlossen hielt, und für eine Verständigung mit den Esten und Letten. Mir wurde damals vorgeworfen, aus der Art geschlagen zu sein. Tatsächlich habe ich aber damit die Politik meines Vaters und Großvaters traditionsgetreu fortgesetzt. Da dies nicht aus Wissen um die Geschichte, sondern instinktiv geschah, so muss es wohl auf gleichgebliebener Anlage beruhen.
Auf diese noch so kurze Einführung hin hoffe ich, dass recht viele Das Buch der Keyserlinge lesen werden. Zur Ergänzung dessen aber das Vermächtnis Vetter Alfreds Graf Alfred Keyserling erzählt… (Ostverlag, Kaunas und Leipzig), des quintessenzialsten
unter den Keyserlings dieser Generation, da er nicht nur vom Vater sowohl als auch der Mutter her Keyserling-blütig ist, sondern vor allem gewisse immer wiederkehrende geistig-seelische Familienzüge in selten extremer Ausprägung verkörpert. Ich drucke hier noch einmal ab, was ich zum Tage der Veröffentlichung Graf Alfreds Verleger zur Verfügung stellte:
Endlich, mit fünfundsiebzig Jahren, hat sich Vetter Alfred, von dessen selten reichem Leben und ebenso seltener Erzählergabe schon mein Vater, wenn er von Fahrten nach St. Petersburg heimkehrte, uns aufhorchenden Kindern Wunderdinge erzählt hatte, entschlossen, weitere Kreise an seinen Erinnerungen teilnehmen zu lassen. Diese könnten und sollten Bände füllen; hoffentlich schreibt er uns wenigstens noch einen vollständigen Bericht über seine Gefangenschaft bei den Bolschewiken in Sibirien und seine wunderbare Rettung aus den Händen der G.P.U.. Doch schon dieser Band enthält phantastisch viel des Interessanten und Ergreifenden. Ich möchte hier zwei Abschnitte herausgreifen: Graf Alfreds Erzählungen von den nach Sibirien verschickten Sträflingen, die er mehrere Jahre lang von der Regierung des Zaren zwecks besserer Behandlung zu studieren bestallt war, was ihn viel unwahrscheinliche Existenzen sehr nahe kennenlernen ließ; unter anderen das lebendige Vorbild von Dostojewskis Raskolnikow. Sodann den erschütternden Bericht seiner eigenen Gefangenschaft in der furchtbaren Peter-Pauls-Festung, während welcher er am eigenen Leib und in der eigenen Seele erlitt, was er in seiner Jugend bei anderen beobachtet hatte. Hier steigert sich der langsam-epische Fluss der Erzählung zu spannendster Dramatik, zumal der Erzähler, der vormals nur nüchtern beobachtet hatte, nun plötzlich okkulter Erlebnisse teilhaftig ward, wie man sie sonst nur von indischen Yogis hört. Hoffentlich wird dieses Vermächtnis eines hochbegabten, vom Leben in ungeheuerlichem Grade auf und ab und hin und her geworfenen Menschen und dem es nie dauernd glücken wollte, ähnlich viele Leser finden wie das Erinnerungswerk der Alja Rachmanowa, mit dem es insofern verwandt ist, als in beiden Fällen eine gleiche Treue zur Erinnerung und eine ähnliche Liebe zur Einzelheit des Lebens waltet — nur dass Graf Alfred Keyserling eben ungleich viel mehr erlebt hat als die Rachmanowa und ungleich weitere Horizonte überschaut.