Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

27. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1938

Der kürzeste Weg zur Selbstverwirklichung

Woher die ungeheure Bedeutung für das Leben, welche der Zen-Buddhismus, und gerade er, in China und Japan gewonnen hat? Daisetz Teitaro Suzuki schreibt darüber in dem Buch, über welches im folgenden Aufsatz mehr gesagt wird (S. 102):

Zen ist immer anregend und einsichtsfördernd, weil er direkt zur Wurzel der Dinge geht, ohne sich um Überbauten zu kümmern.

Der Zen-Buddhismus bedeutet die Wiedergeburt der Seele des Mahayana-Buddhismus, welcher zuerst durch Inder aus Indien in China eingeführt wurde, im spezifisch chinesischen Geist. Dieser ist gar nicht theoretisierend, jeder Differenzierung feind; er ist einerseits praktisch und ethisch, andererseits auf das Schöne gerichtet im höchsten Grad; alles jedoch im Geist einer letzte Kürze ermöglichenden synthetischen Zusammenschau, von der die chinesische Schrift als solche das einleuchtendste Beispiel gibt. So konnte China für die Dauer nur das Wesentlichste und Tiefste am Mahayana aufnehmen in Hinsicht auf dessen Ausdruck im konkreten Leben. Und daraus ergab sich der folgende Grund-Gedankengang, den ich leicht karikierend dem Sinn nach rekonstruiere. Das Wesentliche am Buddha ist, dass er erleuchtet ward. Ward er erleuchtet, so müssen es auch andere werden können. Können sie es werden, so ist das faktische Erleuchtet-Werden das einzige Ziel. Kann dieses Ziel erreicht werden, so muss es auf ebenso direktem Weg gelingen, wie es dem Buddha gelang. Gelang es aber dem Buddha, dann bedarf es eigentlich nicht allein des Buddhismus, sondern auch des Buddha nicht. 1912 hatte ich mit dem damals bedeutendsten Zen-Meister Japans konferiert, Abt Soyen Shaku von Kamakura; es war das erste und bisher einzige Mal, wo ich mich mit einem Menschen tatsächlich ohne Worte und Gesten habe unterhalten können. Inwieweit mich Zen damals beeindruckte, steht im Reisetagebuch beschrieben. Von einem nachhaltigen Eindruck kann keinesfalls die Rede sein, denn von da ab verlor ich ihn über ein Vierteljahrhundert ganz aus den Augen. Da kam der schwere Winter 1937/38. Freunde liehen mir die drei Bände Essays in Zen Buddhism von Daisetz Teitaro Suzuki (London 1927-1934, Luzac & Co., 46 Great Russell Street), und der Eindruck war dermaßen stark, dass ich mich seither ein volles halbes Jahr beinahe ausschließlich mit Zen polarisiert und auseinandergesetzt habe. Der Spiralenweg der Entwicklung hatte mich nämlich auf höherer Ebene dem Zustand wieder nahegebracht, welchem die Einfälle des Himalaya- und des Schluss-Abschnitts des Reisetagebuchs entsprungen waren. Und da erkannte ich, dass von aller Leistung und Überlieferung diejenige des Zen dem, was ich anstrebe und vermittele, am verwandtesten ist.

Ich will mein Streben und Bestreben, wie ich es jetzt sehe, in Form von Parallelsätzen zu denen, in welchen ich die Grundidee des Zen zusammenfasste, niederlegen. Ist Sinn das Tiefst-Wirkliche im Menschen, so muss er in seiner ganzen Tiefe erfasst und in diesem Leben verwirklicht werden können. Kann er erfasst und verwirklicht werden, so muss dieser reale Vorgang unabhängig sein von der Richtigkeit jeder bestimmten Interpretation. Kommt es also auf Interpretation nicht an, so wird jede Akzentlegung und Festlegung auf bestimmte Vorstellungen das Erreichen des Zieles hindern. Hindert Festlegung das Erreichen des Ziels, dann gilt es die Haltung schöpferischer Indifferenz zu erringen. Ist schöpferische Indifferenz die einzige geistgemäße Einstellung, weil sie allein den Geist zu realisieren erlaubt, dann kommt es auf die Art der Betätigung überhaupt nicht an. Kommt es auf die Art der Betätigung nicht an, dann entscheidet allein das Sein, welches sich selbsttätig auswirkt. Wirkt das Sein sich selbsttätig aus, dann gilt es alles zu lassen, was dieses hindern könnte. Ist also alles Vorläufige und Äußerliche vom Innenmenschen gelassen, dann fließt in die also geschaffene Leere die Fülle des letzt-Wirklichen unaufhaltsam ein. Fließt es also unaufhaltsam ein, dann entsteht die dieser Weltenstunde gemäße Form der Erscheinung, sonach die Kairósgerechte integrale Offenbarung, als unvermeidliche Folge.

Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, um die nahe Verwandtschaft meines Ziels mit dem des Zen zu explizieren. — Nicht geringere Ähnlichkeit besteht, mutatis mutandis, zwischen der Art des Wirkens der Zen-Meister und der meinen. In beiden Fällen ist Durchstoßung aller intellektualistischen und moralistischen Überbauten, und darum Erschütterung des vorgefundenen Gleichgewichts methodische Grundforderung. In beiden Fällen bedingt dies Vorliebe für Herausforderung, Paradoxie, karikierende Übertreibung und Ablehnung alles Erklärens, welches den Schüler oder Leser der Selbst-Anstrengung entheben könnte. In beiden Fällen die Forderung schnellster Reaktion, wie solche für den Fechter gilt. In beiden Fällen kommt alles Belehren letztlich auf Polarisierung von Sein mit Sein an, woraufhin denn der Belehrte nicht abhängig, sondern selbständiger wird, als er vorher war. — Was nun meinen persönlichen Weg zum Ziel betrifft, so sei hierzu das Folgende aus dem Aufsatz Meine Beziehung zum Übersinnlichen mitgeteilt, den ich zum zehnjährigen Jubiläum der Estländischen Gesellschaft für Psychische Forschung schrieb:

Wer ich, als Geist, bis etwa 1914 war, steht in meinem Reisetagebuch so deutlich niedergelegt, dass ich darüber nichts Lehrreicheres zu sagen wüßte. Mein Selbstbewusstsein, wie es sich 1925 oder 1926, und von dorther auf die Vergangenheit zurückgreifend, darstellte, habe ich im Epilog zu Wiedergeburt, Mein Glaube, kurz geschildert. Im letzten Jahr nun ist es zu der Krise in mir gekommen, welche die meisten schon Ende der Vierziger erleben und welche C. G. Jung dahin bestimmt, dass sich das Bewusstsein von äußerlich greifbaren Zielen dem eigenen Unbewussten zuwendet, von welcher Wendung ab der eigene irdische Tod im selben Sinn naturgewolltes Ziel ist, wie vorher irdische Erfüllung. Und seither wird mir beinahe von Tag zu Tag klarer, was ich von jeher erstrebte, was meines Schicksals Sinn und meines Lebens letztes Ziel ist.
Wie in Wiedergeburt zu lesen steht, habe ich mich von Hause aus ursprünglich nur als Gast auf Erden gefühlt. Vollbewussten Kontakt mit der Erde gewann ich erst in Südamerika, 1929, aus welchem Kontakt dann die Südamerikanische Meditationen entstanden. Aber mein Geist sehnte sich von jeher nach Verkörperung — nicht nach Entkörperung. Und zum Schreibenden wurde ich, der ich ursprünglich keinerlei Neigung zum Schriftsteller hatte, dadurch, dass ich angesichts meiner vorhandenen Begabung und vor allem Unbegabung nur den einen Weg des schriftlichen Ausdrucks vor mir sah, um mein Eigentliches überhaupt zu materialisieren. Bei meinem Schreiben nun fühle ich mich von jeher nicht unähnlich einem Schreibmedium. Nie wusste ich im voraus, was ich sagen würde — ich spürte jeweils nur den Drang, eben jetzt in bestimmtem Rahmen oder über ein bestimmtes Thema etwas zu sagen; das Ergebnis kam allemal so schnell als überhaupt praktisch durchführbar zustande und bedeutete mir selber allemal eine Überraschung — und sei es auch nur die überrascht frohen Wiedererkennens des bewusst nur dunkel Geahnten. Wie ich in Darmstadt eine äußere Tätigkeit zu entwickeln hatte, an die ich früher niemals gedacht hatte und die mir ursprünglich auch gar nicht lag, da präzisierte sich dieses wunderliche Verhältnis dahin, dass mein Schaffen vom Zusammen-Einfallen eines bestimmten Titels mit einem bestimmten Termin gelenkt wurde: inzwischen brauchte ich gar nicht an das zu Leistende zu denken; nahte der Termin, dann verkörperte sich das Geahnte ganz von selbst.
Heute nun, 1938, bin ich über die Periode äußeren Herausstellen-Wollens (wenn auch schwerlich tatsächlichen Herausstellens: 90%, dessen, was ein Mensch tut, wird auch dem Geistigsten von außen aufgedrängt) hinaus. Ich will nicht mehr dasselbe, wie in den ersten siebenundfünfzig Jahren meines Lebens. Als letztes Werk strebe ich eine persönliche Verkörperung, oder genauer, die Verkörperung des mich treibenden Geists in meiner Person, an, die mir früher unerreichbar war, die ich aber jetzt als grundsätzlich erreichbar ahne. Und da bietet sich mir, von meinem neuen Standorte aus zurückblickend, ein merkwürdiges Bild: von Jugend auf, und im Laufe meines Lebens in immer neuen Etappen und Aspekten, habe ich in Form geistiger Forderung antizipiert, was mir nunmehr, aber wohlverstanden jetzt erst zu persönlichem Erlebnis wird; was ich früher herausstellte, fiel mir nur, gleichsam unverbindlich, ein. Kürzlich las ich den Epilog zum Gefüge der Welt wieder, den ich, glaube ich, mit vierundzwanzig Jahren konzipierte: eben diese Allbedingtheit des Menschen, welche doch zugleich schöpferische Freiheit allererst ermöglicht, und die ich im Buch vom persönlichen Leben so scharf gekennzeichnet habe, als es mir möglich ist, treibt gebieterischer Instinkt mich jetzt zu realisieren. Mit sechsundzwanzig Jahren, in der Unsterblichkeit, bestimmte ich, von außen her dem Innern zustrebend, das ich aber damals noch gar nicht direkt erleben konnte, den tiefsten Kern des persönlichen Menschen als ein Überpersönliches: eben dieses Überpersönliche, das allen Begriffen entrinnt, wird mir jetzt immer mehr, in organischem Wachstumsprozess, zur lebendigen Erfahrung. Die ganze Lehre der Schule der Weisheit, von welcher ich als wichtigste Punkte hier nur die Neuverknüpfung von Seele und Geist, die gegenseitige Durchdringung von Politik und Weisheit in der Weltüberlegenheit, Charakterbildung jenseits des Charakters, Verwandlung des realen Lebens durch Durchschauen, und vor allem die Lehre, dass im Bereich des geistbestimmten Lebens der Sinn den Tatbestand schafft und nicht umgekehrt — diese ganze Lehre erweist sich mir heute als Antizipation vom Geiste her eines Worts, dessen ursprünglicher Sinn von jeher der war, Fleisch zu werden. Und so verstehe ich heute erst vollkommen und unterschreibe es zugleich mit jeder Fiber meines Organismus, was im Schlussabschnitt des Reisetagebuchs steht. Ich schrieb es zu Rayküll im ersten Kriegswinter, 1914 oder 1915, und war als persönlicher Mensch der Erfüllung dessen, was ich damals klar intuierte, noch weltenfern. So fern, dass mein eigentlicher Umweg um die Welt erst dann begann. Er war nicht schon abgeschlossen mit dem Reisetagebuch, wie dies das Motto desselben glauben lässt.
Auf Grund des hier skizzierten Erlebens ist mir heute zu vollkommener Gewissheit geworden, dass der Geist im Menschen ein ebenso Konkretes darstellt wie der physische Organismus, dass er wie dieser als Keim beginnt und sich langsam entfaltet. Nur ist der Rhythmus dieses Wachstums ein ganz anderer als der des Körpers und ist die Erreichung des Ziels niemals notwendig, geschweige denn gewiss, weil sich das Selbst nur von freier Entscheidung zu freier Entscheidung verwirklicht (s. die Kapitel Einsamkeit und Freiheit des Buchs vom persönlichen Leben). Beim Menschen ist geistige Ahnung der organische Keim seines wahren Wesens. Hier aber nun bewahrheitet sich die paradoxe Lehre aller großen Seher, die der johanneische Christus also ausdrückt: Ich bin das Α und das Ω, der Anfang und das Ende, und die der Zen-Buddhismus in das herrliche Gebet fasst: Möge ich mein ursprüngliches Antlitz schauen, so wie es war, ehe denn ich geboren ward. Der Ursprung ist tatsächlich das Ziel; was der Mensch ursprünglich und am frühesten erschaut, ist zugleich sein spätestes höchstes Erreichnis. Der Sinn des Erdenlebens aber liegt darin, dass er notwendiger Umweg um die Welt ist. Ohne diesen Umweg bleibt es bei unverbindlicher Antizipation. Verwirklicht sich diese jedoch in der Erfüllung oder Vollendung, dann, aber dann allein, entsteht jener Körper der Unsterblichkeit, von dem alle hohen Religionen künden. Diesem Körper allein eignet meiner nunmehr festen Überzeugung nach Unsterblichkeit. Nicht bei jedem Menschen entsteht er überhaupt; nur sehr wenige benutzen dieses Erdendasein dazu, um ihn, soweit es in ihrer Kraft liegt, zu vollenden. Aber bis zu einem gewissen Grade teil hat doch jeder an seinem möglichen Unsterblichen. So erklärt es sich, dass die meisten entkörperten geistigen Wesenheiten, mit denen sich der Okkultismus befasst, nicht über, sondern unter dem erdverkörperten Menschen stehen: in letzterem lebt immer noch die Möglichkeit der Erfüllung, in jenen nicht mehr.

Für mich ist der kürzeste Weg zur Selbstverwirklichung ein sehr langer, und es fragt sich sehr, ob ich ihn vor meinem Tode bis zum Ende durchmessen haben werde. Darum kann ich heute keinesfalls schon bestimmte Wege weisen, die einer größeren Anzahl Menschen gemäß wären. Klar aber ist dies: was heute not tut, ist ein analog direkter Weg zum Geist, und von ihm her wiederum ein analog direkter ins materielle Leben hinein, wie ihn seinerzeit der Zen-Buddhismus betrat und lehrte. Die Zeit, da irgendeine bestimmte Tradition als solche den neuwerdenden Menschen zu seinem Heile führen konnte, ist grundsätzlich um. Fortan gilt es, ohne Umwege den Geist in seiner Konkretheit ebenso unmittelbar zu erleben, wie wir Abendländer in den letzten Jahrhunderten die Materie konkret zu erleben gelernt haben. Nur in solchem neuen immediaten Konkretismus liegt das Heil. Auf dem Wege zu ihm nun, den jedermann selbständig für sich suchen und finden muss, vermag kein Studium den Berufenen mehr zu fördern als das des Erlebens der großen Zen-Meister, wie es in dem Abendlande einleuchtendster Form die Arbeiten Suzukis vermitteln. Ich spreche ausdrücklich vom Zen-Erleben: die Theorie des Zen tut’s freilich nicht, wenn auch unter theoretischen Schriften der deutsche Band Zen, der lebendige Buddhismus in Japan von Schuej Ohasama (Gotha 1925, Perthes AG.), trotz aller irreführenden Gelehrtenhaftigkeit, eine gute erste Einführung darstellt.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
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