Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

27. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1938

Bücherschau · W. Y. Evans-Wentz · Milarepa, Tibets großer Yogi

Die Bücherschau dieses Jahres kann ich nicht gut anders beginnen — da mich nichts anderes gleich intensiv beschäftigt hat — als mit einer Fortsetzung der Betrachtungen über den Mahayana-Buddhismus, welche die Hauptaufsätze dieses Hefts enthielten. Es ist Dr. W. Y. Evans-Wentz, der in seiner Jugend in die Mysterien des alten Keltentums tiefer als irgendein anderer eingedrungen war, welcher von Buch zu Buch den Sinn der religiösen Weisheit Tibets westlicher Geistes- und Seelenart in ähnlicher Weise verständlich macht, wie dies Richard Wilhelm im Fall des I Ging getan hat. Jetzt bin ich in Korrespondenz mit ihm: Evans-Wentz ist zweifellos von der Wirklichkeit, welche der Theologie und Mythologie Tibets zugrunde liegt, ergriffen und fühlt sich als deren Prophet. Vom Totenbuch, Tibetan Yoga and Secret Doctrines und Tibets Great Yogi Milarepa gibt es auch deutsche Ausgaben1. Aber sie vermitteln nicht das gleiche wie die englischen Originale, weil die Übersetzer selber keine Wissenden sind und ihr Wort darum das Eigentliche nicht zu übertragen vermag. Darum rate ich jedem, der des Englischen mächtig und sonst dazu in der Lage ist, zu den Originalen zu greifen und als Ergänzung zu diesen nicht deutsche Kommentare, sondern die früher (Weg zur Vollendung Nr. 20, S. 18) besprochenen Schriften der Frau David-Néel zu lesen. Zumal es heute im deutschen Sprachkreis Mode ist, alles und jedes aus dem Geist der Tiefenpsychologie heraus zu deuten und gerade dieser Versuch im Falle religiös-metaphysischer Wirklichkeit ein Erreichen des Ziels am schwersten beeinträchtigt. Sonst kommt zur Erläuterung und Ergänzung beinahe ausschließlich unmittelbares Studium der indischen Tantra in Frage, deren wichtigste Schriften mein jüngst verstorbener Freund Sir John Woodroffe (meist unter dem Pseudonym Arthur Avalon) ins Englische übertragen und bei Luzac & Co. in London, 46 Great Russell Street, hat erscheinen lassen.

Über Evans-Wentz’ Buch über Tibetanische Yoga wüßte ich nun zur Zeit über das in den Hauptaufsätzen dieses Hefts Gesagte hinaus nichts Wesentliches mitzuteilen. Desto eindringlicher jedoch möchte ich auf Milarepa hinweisen, weil die Legende dieses Heiligen mit außerordentlicher Deutlichkeit versinnbildlicht, was den tibetanischen und überhaupt den fernöstlichen Geist vom westlich-christlichen und auch vom indischen unterscheidet. Alle Mongolen zeichnet ein ursprünglicher Realismus aus, welcher dadurch bedingt ist, dass sie alle Geist und Erde ursprünglich zusammenschauen; dass ihre angeborene Mentalität nicht idealistisch ist, von keiner Spaltung zwischen Geist- und Erderleben ausgeht, sondern von Haus aus jenen Standpunkt der Mitte einnimmt, den die spezifisch chinesische Weltanschauung am eindrucksvollsten versinnbildlicht. Hieraus ergibt sich nun vielerlei, wovon ich mehrere Aspekte in anderen Zusammenhängen behandelt habe (zuletzt und besonders im Buch vom persönlichen Leben.) Der bei Tibet entscheidende Aspekt ist der, dass der Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen schwarzer und weißer Magie, ja zwischen Heiligkeit und Erdzugekehrtheit als nicht annähernd so schroff erlebt wird, als seitens anderer Geistes- und Seelenarten geschieht. Milarepa ist nicht allein der große Nationalheilige Tibets — er gehört sicher zu den wenigen ganz großen und in ihrem Da- und Sosein ganz sicher festgestellten Heiligen der Menschheit. Doch wie verlief sein äußeres Leben? Nicht allein blieb ihm keine Drangsal, keine Verkennung, keine Enttäuschung erspart — das war überall und immer so, denn je heller das Licht, desto mehr reizt es die Geister der Finsternis zum Angriff: er begann als wirklich böser Zauberer; er vernichtete nicht allein den Besitz der bösen Verwandten, die seine Familie ausgenutzt hatten, er verursachte der meisten Tod. Heilig wurde er aber nicht auf Grund von Reue im christlichen Verstand, sondern ohne Rückblick, ohne wiedergutmachen-zu-wollen, aus der realistischen Erkenntnis heraus, dass jedes Haften den Weg zur Befreiung versperrt. Und wie Milarepa längst anerkanntermaßen ein Heiliger geworden war, da bekehrten sich seine Verwandten nicht etwa zu ihm, wie dies von den Verwandten Jesu und Buddhas berichtet wird, sondern gerade sie fuhren fort, an ihm zu zweifeln und ihn zu verfolgen.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass Erdzugekehrtheit ipso facto ein im-Zusammenhang-bleiben mit den bösen Kräften der Erde bedingt. Wer da als Engel oder reiner Gott auf Erden, und eben darum irdisch machtlos, unter die Menschen tritt, mag bloß geliebt, bloß angebetet werden: er stört die Erdmächte nicht. Je mehr sich Geist jedoch der Erde selbst vermählt manifestiert, desto mehr muss sein Zauberisches in die Augen fallen, desto aufrührender muss er wirken, desto mehr, je vergeistigter er wird, das Erdschwere als Gegenmacht polarisieren. Und dies zwar in sich sowohl als in denen, die ihm begegnen. Von hier aus denn erklärt sich das gleichsam planetarisch Einleuchtende mongolischer Heilslehren gerade für diese Zeit. Schon der Christus-Mythos bedeutet letztlich Zuwendung des Geistes zur Erde. Schon Christus musste zur Hölle hinab, ehe er als vollendeter Sohn Gottes für immer seinen Sitz im Himmel einnahm. Unser Zeitalter nun steht im Zeichen eines großen Schritts weiter und tiefer im Prozess des Einbruchs des Geistes in das Erdleben. Daher dessen so niedagewesene Greuel, sein Dämonisches und Satanisches. Fortan liegt das Heil ohne Zweifel überhaupt nicht mehr in der Erdabkehr dem absolut Guten zu. Aber erst recht nicht in Nietzsches Jenseits von Gut und Böse. Es liegt in dem Jenseits, welches dem Menschen und ihm allein bewusst und ihn bestimmend wird, der alles Irdische und alles Höllische durchlebte, so dass seine Seele aller nur möglichen Befruchtung durch Ungeist teilhaftig wird, dann jedoch nicht im Himmel thronend richtet, sondern als Bodhisattva, d. h. als der Übermensch, der allein dem intendierten Sinn entspricht, unter Menschen und Tieren und Pflanzen fortwirkt.

Dieselbe Richtung nun verkörpert auch der Zen durchaus. Er lehrt das Alltägliche vertiefen und heiligen. Er lehrt mitten im Leben und in beliebiger Betätigung, so besonders im Schwertkampf, den Geist zu realisieren. Wie Yamauba die betreffende Lehre ausdrückt:

Ich gehöre nicht zur Welt der Menschen, doch ich lebe in und mit ihr in meinen Verwandlungs-Körpern. Hier stelle ich mich als altes Weib der Berge dar auf Grund meines Willens-Karma. Vom Standpunkt der absoluten Identität betrachtet, sind Gut und Böse nur Formen der Relativität und Form ist Leere und Leere ist Form. Die heiligen Lehren des Buddha sind eingemischt in die Dinge der Welt; die Erleuchtung soll man inmitten der Leidenschaften und Wünsche suchen; wo der Buddha ist, da sind alle Wesen, und wo es Wesen gibt, da ist auch Yamauba vorhanden. Die Weiden mit ihren frühen grünen Blättern und die Blumen in ihrer Mannigfaltigkeit grüßen den Frühling. Dies ist der Weg der Welt und des Dharma.
1 Yoga und Geheimlehren Tibets (Otto Wilhelm Barth-Verlag, München-Planegg); Milarepa, Tibets großer Yogi (Otto Wilhelm Barth-Verlag, München-Planegg 1937).
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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