Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
27. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1938
Bücherschau · Solonewitsch · Die Verlorenen
Ein Buch über Russland gibt es jetzt, welches jedermann, dessen Seele nicht erstorben, so oft und so lange lesen sollte, bis dass er von ihm durchtränkt worden ist: Solonewitschs Werk Die Verlorenen, eine Chronik namenlosen Leidens
(Essener Verlags-Anstalt, zwei dünne Bände). Denn es kann für das moderne Bewusstsein, welchem viel mehr Satanisches zu erleben beschieden ist als irgendeiner Zeit vorher, eine ähnlich segensreiche Rolle spielen, wie dies Jahrtausende hindurch das Buch Hiobs getan hat. Solonewitsch ist selber durchaus kein Engel; er hat selber in der Bolschewistenwelt eine nicht geringe, wenn auch nie politische und blutige Rolle gespielt, und zunächst wirkt auch sein Buch ähnlich unheilig, wie alles Bolschewismus-Geborene wirkt. Doch gerade die Selbstverständlichkeit des extrem-Satanischen für den Verfasser wirkt erleuchtend: denn uns allen — die wir ja alle durch Rundfunk und Zeitung Tag um Tag von den fernsten Greueln unterrichtet werden, als geschähen sie bei uns — empört das Schauerliche nicht annähernd mehr so sehr, wie dieses selbstverständlich sein sollte. Unser aller Seele hat sich mehr oder weniger daran gewöhnt. Und hat dieses Mehr
einen bestimmten Grad erreicht, dann beginnt schicksalsmäßig und unaufhaltsam das Abgleiten der Seele in die Unterwelt.
Solonewitsch schildert einleuchtend, wie keiner vor ihm, die Greuel des weißen Todes der Zwangsarbeiter am Weißen Meer; wie keiner vor ihm einleuchtend, eben weil er nichts Besonderes
an diesen Scheußlichkeiten sieht. Und vieles wird dem Leser dabei klar, was er vorher nie verstanden hatte. Zunächst das Wüten Stalins: es ist in Russland nicht so, dass einige hunderttausend Wölfe Abermillionen von Schafen beherrschten, oh nein: die allermeisten sind zu Wölfen geworden; selten wird ein Kommissar oder Tschekist, der sich fern von den großen Städten aus der Bewachtheit herauswagt, nicht sofort viehisch ermordet. Stalin und die Seinen kämpfen also ganz einfach, als Wölfe unter anderen Wölfen, um ihr Leben. Dann lässt uns Solonewitsch besser als früher verstehen, inwiefern Russland diese Schreckenszeit aushalten kann, ohne Anzeichen wesentlicher Schwächung zu zeigen: dies liegt nicht an der unerhörten Leidensfähigkeit des russischen Volks, sondern vor allem daran, dass unter dem Druck unerhörten Leidens und ständiger Gefahr Intelligenz und Zähigkeit des Willens eine ungeahnte Steigerung erleben. Trotz allen Erziehungsmängeln sei die geistige und allgemein psychische Qualität der Überlebenden hundertmal höher, als sie je früher in Russland war. Doch darauf sei nur so nebenbei hingewiesen. Das Entscheidende ist das Sinnbild der Hölle am Weißen Meer. Indem jedermann
dieses Buch liest, sollte er nicht denken: so etwas gibt es gottlob bei uns nicht, sondern sich tief beschämt und aufs bitterste gedemütigt eingestehen: von wieviel Greueln höre ich nicht tagtäglich, ohne dass sie mich beeindrucken? Und wie soll die Welt je besser werden, wenn meine Seele hart wird? Es steht in der Tat der ganze Fortschritt in Frage, welchen der Christus-Impuls einleitete: der Fortschritt, der im Bestimmend-Werden der Phantasie des Herzens lag. So lese denn jedermann den Solonewitsch und meditiere dabei, bis dass er von der Erkenntnis ganz durchdrungen ist: tua res agitur.