Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

27. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1938

Bücherschau · Thomas Wolfe, Louis Bromfield, Margaret Mitchell

Aus der nach-kolonialen nordamerikanischen Literatur hatte mich, wie ich mich zuletzt, vor nunmehr schon zehn Jahren, eingehend mit diesem Kontinent befasste, eigentlich nur ein Buch der sogenannten schönen Literatur als wirklich bedeutend gefesselt: Sinclair Lewis’ Babbitt. Amerikas sogenannte Klassiker waren noch keine Amerikaner im heutigen Verstand, sondern Neu-Engländer oder sonst Koloniale. Als letzter unter diesen darf wohl Henry James gelten. Darauf folgte die große Zeit derer, die, an beliebigem Ort und aus beliebigem Blut geboren, als amerikanische Staatsbürger oder in amerikanischem Rahmen schrieben. Nun aber häufen sich plötzlich, und zwar zum erstenmal, seitdem es die Vereinigten Staaten gibt, echt amerikanische Romane in dem wesentlichsten Verstand der Bezeichnung, dass sie aus der Gesamttradition heraus geboren erscheinen. Es sind nicht mehr Zeit- oder Augenblicksbilder eines beliebigen begabten Schreibers und betreffen auch nicht mehr Ephemeres, sondern aus dem traditionell amerikanischen Gesamtgeist heraus unternehmen sie es, an Einzel- und Familiengeschicken die schicksalhafte Geschichte Amerikas zu gestalten. Da drüben nun aber bisher jeder Sinn für Geschichte fehlte, so fühlen sich die Schriftsteller gedrängt, das Schicksal mehrerer Generationen zusammenzuschauen. So sind diese Romane richtige Epopöen symbolischen Gehalts.

Unter den mir bisher bekannt gewordenen Epen dieser Art gilt in Amerika selbst, soviel ich weiß, Thomas Wolfes Of Time and the River für das beste. Diesem Urteile kann ich nicht beistimmen: als Mensch gehört Thomas Wolfe noch dem Typus jener Zeit des no man’s land an, welche das Intervall zwischen Kolonial-Engländertum und dem jetzt erst Gestalt gewinnenden Nur-Amerikanertum ausfüllte. Doch da dieser Typus eben derjenige der Einwanderer der letzten sechzig oder siebzig Jahre ist, so gehört auch Wolfe in die Tradition hinein, nur in eine Tradition engeren Charakters und besonderer Art. Wobei es vielleicht von symptomatischer Bedeutung ist, dass der Verfasser alles und jedes auf die Wut (the fury) des Lebens zurückführt: die Wortwahl allein deutet auf erlebte Spannung hin, und sicher wird die Spannung zwischen Amerikanern angelsächsischer und nicht-angelsächsischer Abstammung und Überlieferung bald zu einer der Grundspannungen Amerikas werden. Ungleich umfassenderen Geist atmet Louis Bromfield’s The Farm, welches im Rahmen eines kurzen Bändchens vier Generationen in allem Wesentlichen erschöpfend schildert. Welche Kunst konzentrierter Zusammenschau in des gleichen Verfassers Twenty-four Hours einen Höhepunkt erreicht, wie er sich in der gesamten Weltliteratur kaum findet. Hier findet gleichsam die aristotelische Forderung der Raum-Zeit-Einheit im Drama auf dem an sich abliegenden Gebiete der Erzählung eine Erfüllung, die ich, bevor ich diesen Bromfield las, rein theoretisch für unmöglich gehalten hätte. Vielleicht ist Bromfields Kunst aus der schon lange bemerkbaren besonderen Begabung der Amerikaner für Kurzgeschichten herausgewachsen, von der neuerdings die von S. Fischer in Berlin auf deutsch herausgegebene Sammlung Neu-Amerika einen besonders aufklärenden Eindruck gibt. — Doch gleichviel: Bromfields künstlerische Leistung steht himmelhoch über allem, was ich sonst an gedrängter Darstellung kenne. — Trotzdem ist Bromfields Leistung nicht die im wesentlichen Verstande bedeutendste der jüngsten Phase Nordamerikas: als diese ist ohne jeden Zweifel: Margaret Mitchells Gone with the Wind (Vom Winde verweht) anzusprechen.

Auch ich ging nicht ohne Misstrauen an dieses Buch heran — so wenig frei sind wir alle von Vorurteilen. Denn Gone with the Wind ist der größte bestseller überhaupt, welcher bisher in Amerika entstand, und der Geschmack der großen Zahl Amerikas ist in der Regel besonders unsicher. Doch wie ich die ersten fünfzig Seiten des Wälzers gelesen hatte, da erkannte ich beglückt: hier äußert sich ein episches Talent ähnlichen Formats, wie es in Tolstois Krieg und Frieden zum Ausdruck kommt. Die Schilderung des Bürgerkrieges zwischen Nord- und Südstaaten, in Einzelschicksalen konkretisiert, bedeutet eine künstlerische Evokation allerersten Ranges. Dass das Werk unbefriedigend endet, gehört mit zum Typischen gerade der großen epischen Literatur: das Leben hört nie auf; so kann auch der reine Erzähler schwer aufhören, und er tut es meist, irgendwie beirrt und unsicher geworden, im falschen Augenblick, oder aber er konstruiert zuletzt, anstatt spontan zu schaffen. — Doch nachdem ich dieses Urteil gefällt habe, dessen Gültigkeit jeder für sich nachprüfen möge, komme ich allererst zu dem, was mich an Gone with the Wind am tiefsten interessiert hat: die Männer der Nordstaaten, aus denen der heute tonangebende Amerikanertypus erwuchs, wirken im Vergleich mit den Südstaatlern kaum anders wie Bolschewiken im Vergleich mit den Vertretern der europäischen Kultur.

Der Sieg der Nordstaaten bedeutet in der Tat, kulturell gesehen, den Tod einer schon vorgeschrittenen amerikanischen Kultur, und nichts Positives gleicht dieses Negative aus. In Heft 16 dieser Mitteilungen schilderte ich am Beispiel des Urbildes von Lederstrumpf, Daniel Boone, wie der vornehme Mann, als welcher der Pionier ursprünglich war, immer mehr vom schlauen Schieber verdrängt wurde, bis er schließlich auf — spanisches Gebiet übertrat. Einen gleichen Sieg des Geringeren über das Bessere bedeutete später die Niederlage der Südstaaten. Nun aber kommt das Hoffnungsvolle an dieser so traurigen Angelegenheit: nicht allein hielten die Südstaatler, noch so verarmt, durch, so dass sie schon wenige Jahrzehnte später in ganz Nordamerika als Individuen überall wieder vorherrschten; nicht nur hat eine Südstaatlerin aus dem Geist der alten Tradition heraus das bisher bedeutendste Kunstwerk Amerikas geschaffen: der Geist des Südens und nicht der des Nordens wird immer allgemeiner als der empfunden, aus dem einmal ein besseres Amerika hervorgehen könnte und sollte. Daher die ganze neue Literaturgattung.

So bewahrheiten sich heute schon zwei der Hauptthesen meines Amerika-Buchs: dass das Amerika, über welches ich schrieb, Sowjetrussland nahe verwandt ist, und dass alles Heil vom Süden kommen würde. Ich las 1937 so viele amerikanische Romane, weil abgemacht war, dass ich von Januar bis April 1938 wieder auf dem Gesamtgebiet der Vereinigten Staaten Vorträge halten sollte. Leider musste ich die Reise im letzten Augenblicke aufgeben und auch eine Einladung nach Südamerika für den Sommer dieses Jahres ablehnen. Immerhin habe ich einen Anlass gehabt, mich nach langer Zeit diesen fernen Erdteilen wieder zuzuwenden. Hiervon soll auch der folgende Paragraph dieser Bücherschau Zeugnis ablegen.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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