Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

27. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1938

Bücherschau · Mercedes Gallagher de Parks, Richard Benz

Jungen und neuen Völkern wird gern ihre Imitativität vorgeworfen: mit Unrecht. Wesentlich sind sie keine Nachahmer, sondern Aufnehmer, Assimilierer (man verzeihe die zwei angewandten Fremdworte, doch zur genauen Wiedergabe dessen, was ich meine, fehlt das deutsche Wort). Und je begabter und ehrgeiziger sie sind, desto mehr müssen sie assimilieren wollen, denn es ist unmöglich, andere zu übertreffen, bevor man sie erreicht hat. Das größte Genie der Welt begann allemal als Lehrling. Was jungen und neuen Völkern tatsächlich in der Regel fehlt, das ist die Eigen-Form, der eigene Stil, außer gelegentlich auf der Ebene des Elementarlebens. So gehört z. B. jede bisherige nur-nordamerikanische und dabei schon stilvolle Lebensform, so intellektualisiert und moralisiert sie im übrigen sei, dieser Ebene an und ist mit den Stilen alter Völker überhaupt nicht vergleichbar. Die geistige Originalität ist Funktion einer geistigen Eigen-Form, die ein artikuliertes geistiges Wesen abgrenzt, und solche Eigen-Form kann erst nach Überschreitung des Embryo- und Kindes-Stadiums entstehen. Auf den Gebieten des Verstandes und der Vernunft nun kann das Embryonäre und Kindhafte einen Vergleich mit dem Reifen überhaupt nicht aushalten, denn der Gedanke, im Unterschied von Empfindung und Gefühl, existiert als Wert nur in Funktion der Vollendung und Endgültigkeit seiner Artikuliertheit.

Dies erklärt, warum die Ideen junger und neuer Völker, so gescheit diese im übrigen seien, selten originell wirken. Die Völker Amerikas beginnen aber eben jetzt, nach der Weltkrise, eigene Lebensformen zu bilden. Und dafür wüßte ich keinen besseren Beweis als das Buch La realidad y el Arte, estudio de estetica moderna (Impr. Torres Aguirre, Lima-Peru 1937) der Peruanerin Mercedes Gallagher de Parks.

Ich nahm das Buch nicht gleich nach Empfang zur Hand, denn die Behauptung der Verfasserin, es handele sich um ein System der Ästhetik, hatte mich misstrauisch gemacht. Wie ich es aber zu lesen begann, da sah ich, dass das Buch gottlob überhaupt nicht systematisch ist, sondern eine selten klarsichtige Schau der konkreten Kunst aller Zeiten vom realisierten konkreten Sinn der Kunst her bedeutet. Was die Verfasserin System heißt — wahrscheinlich aus typisch weiblicher Überschätzung alles Abstrakten — ist in Wahrheit nur die klare und präzise Bestimmung eines besonderen Gesichtswinkels. Mercedes Gallagher de Parks geht von der Voraussetzung aus, dass die Kunst primärer Ausdruck primärer Schöpferkraft ist, welche grundsätzlich nichts mit der Schönheit zu tun hat, die der Amusische meint. Sie zeigt weiter, dass

die eigentliche Sprungfeder der Kunst nicht die Freiheit, sondern die Spannung ist, die aus dem Kampf mit den Ausdrucksmitteln, gegen die Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit der Umwelt oder gegen die natürliche Trägheit des Menschen-Tiers entsteht, die immer wieder die Richtung geringsten Widerstands zu wählen nahelegt… Die Kunst ist ein unbeständiger Gleichgewichtszustand, und es bedarf der genannten Spannung, um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Weiter sagt die Verfasserin:

Die Wahrheit ist, dass künstlerische Schöpfung und Leidenschaft, fern davon, unlöslich miteinander verbunden zu sein, sich nur gelegentlich miteinander verbinden und immer zum Nachteil der ersteren. Alle wahrhaft große Kunst, welche die Leidenschaften betrifft, gründet auf dem Triumph des Willens über jenen und nicht in deren Befriedigung. Bach erreicht einen Gipfel der geistigen Welt, allwo die Leidenschaften nicht mehr leben; Beethoven gelangt zu analoger Tiefe, weil er den Kampf des Geistes verkörpert, der zum Triumph über die Leidenschaften führt. Wagner schwelgt in diesen und schenkt uns die vollständigste Interpretation der Leidenschaften in der Sprache der Musik. Diese drei verfügen über gleiche Schöpferkraft, doch es besteht kein möglicher Zweifel darüber, wer von den dreien der wenigst große ist.

Durch ihr ganzes Buch hindurch beweist Señora Gallagher de Parks seltenes Verständnis für die reale und wahre Beziehung, die zwischen spiritueller Wahrheit und den gesicherten Errungenschaften der Tiefenpsychologie besteht. Ausgezeichnetes enthält es über die Architektur der Zukunft. Mich aber erfreute besonders das folgende Aperçu über die Literatur:

Die Literatur ist beinahe mehr ein Künstliches (un artificio) als eine Kunst, weil ihre Schöpfungen sich durch die bewusste Intelligenz hindurchwinden müssen, um sich zu verkörpern. Ihre Verbundenheit mit der Wirklichkeit, welche die Grundlage wahrer Kunst darstellt, tendiert bei der Literatur dahin, sich im bloßen intellektuellen Ausdruck bewussten Denkens zu zerstreuen (disiparse). Dann hört die Literatur auf, Kunst zu sein, obwohl sie sehr wohl noch Literatur sein kann… Die Frauen bieten hierfür einen besonders einleuchtenden Beweis, weil eben die Kraft künstlerischer Schöpfung nicht zu ihren typischen Eigenschaften gehört. Wohl rivalisieren sie heute mit den Männern in der Produktion von Büchern und Theaterstücken, doch das bedeutet nichts, denn die Art von Büchern und Stücken, welche Männer und Frauen heute mit gleicher Geschicklichkeit anfertigen, sind keine Erzeugnisse künstlerischer Schöpferkraft, sondern bloß die einer sehr kompetenten literarischen Technik.

Die Verfasserin war viel in Darmstadt, hat La Vie Intime ins Englische übersetzt und auch eine Einführung in mein Werk in der gleichen Sprache geschrieben. Natürlich fehlt ihr der spezifische Tiefen-Sinn, der heutzutage ausschließlich Deutsche zu kennzeichnen scheint. Darum sei zum Abschluss dieses Paragraphen auf eins der tiefsten Bücher über Kunst hingewiesen, das ich überhaupt kenne: Richard Benz, Vom Erdenschicksal ewiger Musik (Jena 1936, Eugen Diederichs Verlag). Hier nur einige wenige Brocken daraus, die hoffentlich jeden anregen werden, das kleine wohlfeile Büchlein selbst zu lesen:

Die Polyphonie gehört zu jenen schicksalhaften Verdrängungen und Übertragungen, die einen dichterischen Trieb in Künste hineindrängen, denen er ursprünglich fremd ist. Derselbe Rhythmus, der die wechselnde Betontheit von Baugliedern und die Linienbewegtheit von Raum und Bild aus der beharrenden Materie hervortreibt, er gliedert — selbst in der Musik als ein Rhythmus im Raum — das einheitliche Tongeschehen der homophonen Masse in Einzelträger dieses Geschehens, in Säulen, Pfeiler, Strebungen, die ihren eigenen Gang und Wuchs und Sondergestalt besitzen, und doch gemeinsam zu einem Ziele hochdringen. Aber in diesem Räumlichen wirkt nur ein tieferer geistiger Prozess: im Zerstören und fast Unvernehmbarmachen der Sprache, das hier notwendig für den Hörenden geschieht, will eine eigene Sprache ans Licht, die über den Gefühlsklang hinaus, den alle Musik der Welt bisher allein zu tönen vermochte, Bedeutung im selbständigen Gang der Stimmen sucht. Es ist gleichsam eine erste Abstraktion, die das Klingende zerlegt, in vielfältiger Anwendung überträgt, und im sinnlichsten Element ein erstes Denkertum begründet… Da etwas Derartiges in keiner anderen Kultur sonst vorkommt, so kann man sich die realen Bedingungen nicht deutlich genug machen, aus deren Zusammenwirken es entsprang. Es ist hier von besonderem Aufschluss, dass die Mehrstimmigkeit in demselben Lande und bei demselben Stamm zuerst sich ausbildet, wo auch das gotische Strebesystem und das System der Scholastik erfunden wird… (S. 23/24).

Und weiter (S. 28):

Die weltbewegende Kraft Luthers, die den gotischen Wunderbau einer bis zum letzten unerschöpften Bildkunst in Trümmer sinken ließ und aus dem Bewusstsein deutscher Menschen für Jahrhunderte tilgte: sie hat zugleich und eben dadurch die eigentliche Kunst Musik erst frei gemacht und zu eigenem geistigerem Bau zeitloser Gotik ihr den Grund gelegt. Es wird nicht mehr mit Steinen gebaut in protestantischer Welt; das unsichtbare Erlebnis des Wortes erträgt kein Bild, schafft keinen neuen Raum. Aber da die steinerne Hülle fällt, steht gleichsam noch das geistige Gerüst, das kontrapunktische Tonsystem, das ihn erfüllte und trug: und dieses wird von Luther selbst noch übernommen, um einen unsichtbaren Bau über einem neuen Weltgrundgefühl zu wölben.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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