Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
28. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1939
Bücherschau · Wilhelm von Scholz · Der Zufall und das Schicksal
Ich möchte noch einmal besonders auf das (in früherem Zusammenhang schon empfohlene) Buch von Wilhelm von Scholz Der Zufall und das Schicksal
(Leipzig, Paul List Verlag), zurückkommen. Zunächst jedoch im Zusammenhang mit dem französischen Sprichwort: le mieux est l’ennemi du bien, eine scheinbar abliegende aber wichtige Bemerkung. Das Exemplar, welches mich seinerzeit außerordentlich angeregt hatte, gehörte der dritten erweiterten Ausgabe (7.-10. Auflage, vom Jahre 1935) an. Ich verlieh es jemand, der es mir dann nicht zurückgab sondern, weil er eigene Bemerkungen hineingeschrieben hatte, durch ein anderes neues und einer neuen Auflage zugehöriges ersetzte. Wie ich dieses nach Jahr und Tag zur Hand nahm, erkannte ich das seinerzeit Gelesene überhaupt nicht wieder; ich fand nichts von dem, was mich vormals gefesselt hatte, meinte der Verfasser hätte in der Umarbeitung alles verdorben und forderte aufgebracht Rücksendung des ausgeliehenen Exemplars. Dies erhielt ich dann aus der — Mandschurei wieder, wohin es indessen weitergewandert war. Das bekannte Buch fesselte mich genau so wie das erste Mal. Wie ich aber dann die beiden Auflagen verglich, da fand ich, dass Scholz in der späteren Auflage am mir bekannten Texte gar nichts geändert, nur etwa hundert Seiten neuen Text hinzugefügt hatte! Dieses Neue beeinträchtigt nun freilich den geistigen Wert; die neuen Beispiele sind nicht im gleichen Geiste zusammengestellt und bedacht worden wie die früheren; in der endgültigen Auflage sollten sie verschwinden. Doch dieser Fehler erklärt mit nichten mein Nicht-Wiedererkennen des alten Textes. Dieses beruht darauf, dass die erstmalige Lektüre zu dem betreffenden Exemplar eine participation mystique geschaffen hatte, welche zu anderen Exemplaren nicht bestand. Man hüte sich also, Exemplare eines Buches, die einem etwas bedeutet haben, jemals wegzugehen! Die erste Liebe kommt von ihrem konkreten Gegenstand nie los, und mit ihr alles, was diese ihrerzeit an Tiefenkräften löste…
Ich möchte aber auch anderen raten, wo möglich eine frühere Auflage von Schicksal und Zufall
zu lesen: unter dem Andrang von Tatsachen
, die ihm zugetragen wurden, ist Scholz von Jahr zu Jahr unsicherer geworden in bezug auf die Gültigkeit des Rahmens, den er ursprünglich spannte und im übrigen schwächt das Übergewicht der Masse von Tatsachen die Leuchtkraft des lebendigen Sinns. Den Sinn des Rahmens nun umreißt vor allem der kurze Abschnitt XVII auf Seite 132 und eigentlich um dieses einen Abschnitts willen spreche ich für meine Person dem Buche wesentliche Bedeutung zu. Es ist der Abschnitt, in welchem Scholz den Zusammenhang von Wille, Schicksal und Zufall, wie schon gesagt, dergestalt bestimmt, dass im großen ganzen alles so verläuft, als werde der Mensch geträumt; geträumt zugleich als die besondere Person, welche er lebend darstellt, wie als die anderen Menschen, Ereignisse und Aufgaben, die ihm begegnen; als sei sein tiefstes Selbst dem Träumer gleich, dessen Bewusstseinszentrum jenseits des Ichs liegt… Diese Dinge lassen sich nicht scharf fassen. Aber ich kann sagen, dass Scholz’ Vision eines der förderlichsten Meditationssymbole darstellt, das mir je begegnet ist. Wer da sein Ich über-leben, wer sich selber auf einmal zum amor fati, zur Nächstenliebe und zur Selbstüberwindung erziehen will, dem bietet Scholz’ Darstellung des Verhältnisses der verschiedenen Komponenten unserer Existenz einen wunderbaren Ansatzpunkt. Meditiert er diesen, dann wird er auch das Übrige, mehr oder weniger Anekdotische ohne Schaden lesen. Nur hüte er sich, weiter zu denken, als Scholz selber gedacht hat. Ja er bleibe in seinem Nachdenken lieber noch vor Scholz’ Schlussergebnissen stehen. Die objektive Wissenschaft hat nie das letzte Wort; überall und immer hat vielmehr das erlebende Subjekt das letzte Wort, zu welcher Wahrheit sich übrigens Wilhelm von Scholz selbst auf Seite 201 mit den folgenden guten Sätzen bekennt:
Das Schicksal vollendet sich erst in der seelischen Aufnahme, die es in dem das Schicksal Erleidenden findet. Wenn wir die nicht so genau kennen, als ob wir sie in unserer Brust selbst erlebten, wissen wir nichts von dem Schicksal jenes anderen. Alles, was wir darüber glauben und denken, ist nichts als ein Tappen in tiefstem Dunkel.
Beim Meditieren nun kommt es auf intellektuelle Expliziertheit und wissenschaftliche Exaktheit des Bildes oder der Formel gar nicht an, sondern einzig auf die Fähigkeit, das Unbewusste unmittelbar zu ergreifen. Dies nun vermag Scholz’ Bild vom Geträumtwerden
in meinem Fall im höchsten Grad.