Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
28. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1939
Bücherschau · Dhan Gopal Mukerji
An Yoga-Literatur habe ich seit Erscheinen des letzten Heftes dieser Mitteilungen wenig Neues gelesen; dafür aber die wichtigen Stellen der früher besprochenen Werke Suzukis immer erneut meditiert. Und auf Grund dieser Erfahrung kann ich nur noch mehr betonen, wie förderlich gerade das Meditieren von Zen-Bildern und Zen-Worten ist. Und das kann ja gar nicht anders sein: wo es heute gilt, über Name und Form
hinauszugelangen, eine neue, dem Durchschautheits-Studium früherer Vorstellungen gemäße Beziehung zum Metaphysisch-Wirklichen zu gewinnen, muss die Überlieferung die beste Hilfe auf dem eigenen, selbständig zu begebenden Weg gewähren, die den geringsten Grad dogmatischer Festgelegtheit verkörpert. Das Leere, der Grenzbegriff des Zen, ist in der Tat ein durchsichtiges Gefäß für alle nur möglichen Fälle. Hierzu sei nur noch dies bemerkt — viel öffentlich über diese Dinge sagen mag ich nicht: auch der Taoist polarisiert sich mit einem Leeren, im Unterschied von nicht nur christlicher, sondern auch indischer Gestalt-Erfülltheit. Doch der Taoismus setzt nichtsdestoweniger implicite die Gültigkeit der bestimmten chinesischen Weltanschauung voraus. Wer sich in Zen versenkt, wird von jeder traditionellen Gebundenheit frei. Und so entstehen im Zen-Praktikanten neue, ad hoc, seinem eigensten Zustand entsprechende Bilder und Begriffe, falls überhaupt welche entstehen. Auf die Dauer aber entstehen solche unvermeidlich: je mehr sich das Bewusstsein entleert, desto unbehinderter und vermengungsfreier dringen neue Kräfte in dasselbe ein.
Für mich gibt es, zur Zeit wenigstens, nichts Überliefertes, das an fördernder Kraft den Vergleich mit Zen aushielte. Insbesondere sagen mir die Inder zur Zeit besonders wenig, weil ihr Vorstellungsleben dermaßen überschwenglich ist, dass sogar indische Theorien der Leere und der Ent-Leerung irgendwie dschungelhaft verwirrend wirken. Das hängt bei den Indern zum Teil mit einem seltenen Mangel an literarischer Begabung zusammen. Sie scheinen unfähig, zu kürzen und auszulassen, wo doch das eigentlich Formgebende bei einem Gedicht das Leere, d. h. das ist, was nicht gesagt wird; aus dem scharf ausgeschnittenen Negativ entsteht hier das Positiv. Ausnahmen gibt es in Indien nun freilich; deren größte ist Rabindranath Tagore, aber dem wiederum eignet für einen Inder eigentlich wenig metaphysische Original-Einsicht. Ich weiß aber doch von einen modernen Inder, der sowohl religiös Erlebender als echter Dichter ist: das ist Dhan Gopal Mukerji.
Schon lange kannte ich ihn als einen der entzückendsten lebenden Erzähler. Und wie viele andere hat nicht schon seine märchenhafte Erzählung Kari der Elephant
entzückt! Wer dieses Buch, dessen Verlag ich mich leider nicht entsinne, nicht kennen sollte, der notiere den Titel ja für Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke für Adoleszenten. Dann las ich in französischer Sprache Mukerjis ergreifende Schilderung intimen Inderlebens Le Visage de mon frère
(Paris 1929, Librairie Stock) und Brahmane et Paria
(Paris 1928, Edition Victor Attinger); noch niemals meines Wissens ist die lebendige Verwobenheit des Inders, zumal der indischen Frau, von Kind auf mit der übersinnlichen Welt so greifbar-überzeugend evoziert worden. Hoffentlich gibt es auch deutsche Ausgaben von diesen Büchern.
Inzwischen nun schickte mir eine Frau, die Unsagbares standhaft durchlitten hatte, Mukerjis Antlitz des Schweigens
(München-Planegg 1938, Otto Wilhelm Barth-Verlag), weil es ihr Trost gewährt hatte. Kaum hatte ich die Lektüre des Buches begonnen, da wusste ich schon, dass hier allerdings ein Trostbuch ersten Ranges vorliegt. Seither habe ich irgend einen Absatz desselben beinahe täglich meditiert. Hier evoziert Mukerji nämlich Ramakrishna, wie dieser leibte und lebte. Seit jeher stand dieser letzte große Heilige mir besonders nahe, weil ihm die gleiche Gabe selbstverständlichen Durchschauens aller Gestaltung angeboren war wie mir; darum hatte ich, seitdem ich den Plan von Zeitgenossen
fasste, vor, mein eigenes religiöses Erleben einmal am Sinnbilde Ramakrishnas darzustellen. Dieses Buch nun zeigt beinahe leibhaftig, wie Ramakrishna Jenseitiges erlebte, wie er vom Jenseits her das Diesseitige durchdrang und heiligte. Möchte jeder Deutsche, in dem nur eine Ahnung echt religiösen Erlebens lebendig ist, sich in dieses kleine billige Buch so lang versenken, bis dass er verstanden hat, warum ich es so ernst und dringend empfehle. Denn leider leider fehlt den aller-allermeisten der Sinn für das Einzige und Einzigartige. Die meisten vergleichen oder erleben im Rahmen der Ähnlichkeits-Kategorie, dieser schlimmsten Verfälscherin der Wahrheit. So werden nicht nur einsame Große allemal so lange verkannt, bis dass ein auf sie abgestimmter ausdruckfähiger und dank seiner geringeren Vollmacht weniger Gegnerschaft weckende Geist ihn für sich selbst entdeckt und als seine Er-Findung herausgestellt hat — genau so geht es eigentlich jedem Menschen. Daher das einzigartig Beglückende des Geliebtsein-Erlebnisses. Es ist weniger das Geliebtsein als solches, welches dermaßen wohltut — mehr Menschen als man denkt sind selbstsicher genug, um solcher Bestätigung nicht zu bedürfen — und es ist auch nicht das Gefühl des Richtigerkanntseins, denn die Liebe ist oft blind und jedes Unbewusste weiß über sich selbst genau Bescheid — sondern das unverglichene Hingenommenwerden als Unvergleichlichkeit. — Soeben höre ich, dass sich Mukerji kürzlich selbst das Leben genommen hat. Für einen Inder ein Ungeheuerliches… welches Sinnbild dessen, dass wir im Kali-Yuga leben…