Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
28. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1939
Bücherschau · Fred D. Pasley · Al Capone, the biography…
Zum Abschluss dieser Bücherschau möchte ich noch einmal auf das Phänomen der Korrelation alles besonderen Lebendigen im Rahmen höherer Einheiten, von der schon mehrere Aspekte aufgezeigt wurden, zu sprechen kommen. Und zwar aus Anlass einer Lebensbeschreibung des großen Gangsters Al Capone, die mir zufällig in die Hände kam. Das Buch als solches (Al Capone, the biography of a Self-made man, by Fred D. Pasley, London, Faber & Faber Limited) taugt wenig; es stellt nur Chronik-artig Daten zusammen, schildert kaum, evoziert hinter den trockenen Tatsachen nichts; ja das einzig Interessante am Buch bedeutet für mich sein so gänzlich unenglischer Wortschatz; noch nirgends trat mir der (übrigens erstaunlich große, darin primitiven Sprachen sich annähernde) Neu-Reichtum des Amerikanischen, der, wie aller Neu-Reichtum, bis ins Mark vulgär ist, so plastisch herausgestellt entgegen. Aber die Lektüre machte mir das Phänomen des Gangstertums neu bewusst. Ich erlebte in den Vereinigten Staaten ja selber dessen Hochblüte. In meinem Buche über Amerika führte ich es schon 1928 darauf zurück, dass die allzu große Routiniertheit, Vorausberechnetheit und sonstige Gesichertheit des amerikanischen Lebens das schlechthin alle Norm Verleugnende des Gangstertums zur Kompensation fordere. Heute ist mir ganz klar, dass die Dinge so und nicht anders liegen. Die niederste Ausdrucksform des Freien
ist die Willkür, das Freie
ist des Menschen Wesenskern. Verzichtet er nun auf dessen normale Betätigung, so muss die Funktion sich einerseits zurückbilden, andererseits zu explosiv zerstörerischem Sich-Ausleben neigen. So erklärt sich das Extreme der amerikanischen Gesetzlosigkeit
(Lawlessness) restlos aus Amerikas Übermechanisierung. Aber ist von hier aus nicht auch die normale Entwicklung Europas seit dessen beginnender Amerikanisierung tiefer, als von anderer Warte aus betrachtet, möglich wäre zu verstehen? Die ungeheure Wirkung des missverstandenen Nietzsche rührt so ganz und gar hierher. Es ist ganz wesentlich einzusehen, dass gerade der missverstandene Nietzsche gewirkt hat; in dessen Worte projizierten sich Elementarbedürfnisse von Menschenmassen hinein. — Gleiches gilt erst recht von Sorels Réflexions sur la Violence
. Was die tiefe Wirkung dieses Buchs biologisch bedeutet, kann nur der ermessen, der noch das 19. Jahrhundert erlebt hat mit seinem Glauben an einfürallemaligen Frieden und seinem Abscheu vor Gewaltentscheidung. Von hier aus nun versteht man erst ganz die Normalität des Krieges. Ohne dessen in rhythmischen Abständen erfolgende Korrektur des Friedenszustandes, die unterdrückte Instinkte schnell auszuleben gestattet, entartet dieser Zustand zu etwas Pathologischem. Freilich müsste es möglich sein, diesen Rhythmus geistgemäßer zu gestalten, als er es gewöhnlich ist; im Ritterzeitalter war er auch geistgemäß. Das Urbild seiner symbolisiert aber wiederum die Termite am besten. Ich empfehle hier das wieder nachzulesen, was ich im Heft 21, (1932) S. 22 dieser Mitteilungen anlässlich von Leo Frobenius’ Schicksalskunde
über den Rhythmus des Termitenlebens schrieb. Ich zitiere daraus zum Abschluss den folgenden Abschnitt:
In Afrika gibt es eine Termitenart, welche dem Beobachter das folgende Wechselbild bietet, alle vier Wochen wird das geruhsame Dasein ihrer Burg explosionsartig unterbrochen. Eines schönen Morgens erscheint die Oberfläche vollkommener Zerstörung anheimgefallen. Die Kanäle sind sämtlich erbrochen und liegen frei zutage; Tausende und aber Tausende schmutziggelblicher Geschöpfe liegen zwischen den Scherben tot umher. Einen Tag bleibt das Trümmerfeld so liegen. In der Nacht aber kehren die, welche derartig vandalisierend und mordend getobt und sich tagsüber nur zurückgezogen hatten, wieder und vollenden das Werk. Und da erweist es sich, dass die Zerstörer und Neuerbauer keine andern waren als die Vertreter einer jüngern Generation derselben Termitenart, die aus dem Innern des Kegels zur Kappe aufgestiegen und über die Bewohner der Oberflächenschicht hergefallen waren.Im Dunkel der ersten Nacht, so fasst Leo Frobenius diesen Bericht, mit dem er seine Schicksalskunde einleitet, zusammen,werden die an behagliches und gleichmäßig hinfließendes Leben gewohnten Altbewohner unversehens überfallen und ermordet. In der folgenden Nacht wird das Trümmerfeld aufgeräumt und mit einem frischen, nur ein wenig höher gelegenen Kanalnetz überzogen. Eine neue Periode wohlgeordneten Lebens und Behagens setzt ein.