Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

2. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1921

Von der Selbstführerschaft

In meinen Vorträgen betone ich immer wieder, dass ich nicht Führer zu sein wünsche in dem Sinn, dass ich mir Gefolgschaft heranziehen, sondern dass ich jeden zur Selbstführerschaft anleiten möchte. Wie ist dieses nun möglich? — Der Weg ergibt sich aus der folgenden, sehr einfachen Überlegung. Jeder einzelne Mensch, in der Vielfältigkeit seiner Seele — dass jemand nur zwei Seelen besäße, wie Faust von sich behauptet, ist mir noch niemals vorgekommen — ist ein Spiegelbild der Gesamtheit in dem Verstand, dass in jedem alle oder doch die meisten der Anlagen leben, welche innerhalb jener als Vielheit von Typen und Individuen in die Erscheinung treten. Deshalb ist der große Mann der, welcher möglichst viel Menschheit in sich resümiert, möglichst wenig ausschließt, möglichst viel Einzelnes in der Harmonie vollendet. Zu diesen Sondermöglichkeiten, die jedem innewohnen, gehört nun auch das Führertum. In jedem lebt ein Führendes und ein Geführtes oder zu Führendes; jeder beherrscht irgend welche Teile von sich. Erscheint nun die Menschheit, wie es der Fall ist, trotz aller gleichmacherischen Theorien, in Führernaturen und Geführte organisch gegliedert, so organisch, dass die einen nicht umhin können zu führen, und die andern nicht glücklich sind, wo sie nicht geführt werden, so bedeutet dies nichts anderes, als dass sich die gleichen Anlagen, die in der Einzelseele in wechselndem Verhältnis auftreten, analog innerhalb der Gesamtheit verteilen. Nur liegt die Sache in diesem einen Falle anders als bei den eigentlichen Talenten. Nicht jeder kann sich zum Musiker, zum Denker, zum Staatsmann heranbilden; wohl aber jeder zur Selbstführerschaft. Und dies zwar deshalb, weil das Führende mit dem in jedem vorhandenen, der freien Wahl fähigen tiefsten Kern der Persönlichkeit zusammenfällt, also keine eigentliche Sonderanlage darstellt. Es gilt nur für jeden zu erkennen, dass er sich führen kann, zu ermessen, in welchem Grade dies der Fall ist, bis in den Mittelpunkt seiner Persönlichkeit einzudringen, sein Bewusstsein dort zu verankern und daran zu arbeiten, die Fähigkeit, aus ihm heraus zu leben, was durchaus möglich ist, unaufhaltsam in sich zu steigern. Wer solches nur eine Weile versucht hat, dem wird klar, dass er es grundsätzlich nicht nötig hat, sich durch andere führen zu lassen, dass er bisher nur andere die Rolle spielen ließ, die er ebensogut selbst spielen könnte. Schließlich kann einen auch der andere allein vermittelst der eigenen Seele leiten; diese bleibt unter allen Umständen die letztlich entscheidende Instanz. Es gilt nur, den Umweg über die anderen zu vermeiden, den ganzen Vorgang in sich abzumachen.

Wer dieses lernt, erreicht, ohne Rücksicht auf seine besonderen Talente, ein höheres Seinsniveau, eben das, welches den eigentlichen Herrennaturen eignet. Dass solche tatsächlich züchtbar sind, beweist das Dasein von Herrenkasten und -völkern. So kann wirklich jeder sein eigner Führer sein oder werden. Werden große Führer dadurch überflüssig? Freilich nicht. Jeder kann doch nur innerhalb der Grenzen seiner Anlagen Führer sein; zur Leitung eines Volkes, einer Zeit bedarf es mehr als zur Beherrschung einer durchschnittlichen Seele. Wohl aber wird durch solchen Erziehungsprozess das Gesamtniveau gehoben, So dass es, extrem ausgedrückt, nicht mehr Herren und Sklaven, sondern nur mehr Herren gäbe, die sich in ihren letzten Entscheidungen vom Befähigtesten leiten ließen. Und dies zwar freiwillig. Hier haben wir nämlich den springenden Punkt erreicht: was den Subalternen macht, ist nicht, dass er gehorcht, sondern dass er unfreiwillig und verständnislos gehorcht. Der Freie wählt den, welcher ihn führen soll. Die erste, sehr vorläufige Verkörperung der dieser Grundeinsicht entsprechenden Willensrichtung ist das demokratische Prinzip. Dass sie sehr vorläufig ist, beweist eindeutig die Tatsache, wie selten die Demokratie wahre Führer hervorbringt. Dank dem Gleichheitsgedanken ist der Sinn für Qualität nahezu verloren gegangen. Es gilt nicht, überhaupt, sondern den richtigen zu wählen, dies aber vermag klar bewusst nur der, welcher versteht, was Führerschaft bedeutet, welches weiter nur dem gelingt, der zwischen dem Führenden und dem Geführten in sich scharf und sicher zu unterscheiden gelernt hat. Wer so weit ist, der erkennt unwillkürlich, wie selbstverständlich, wen er in der Gemeinschaft als über sich stehend anerkennen soll. Würden also die Menschen als Gesamtheit zur Selbstführerschaft erzogen, gelänge dieser Prozess, dann wäre das Folgende erreicht: jeder Einzelne würde letztlich selbstbestimmt erscheinen, in der Gemeinschaft jedoch den Ton der angeben, der dazu geboren und berufen ist. Dieser würde niemanden zwingen. Aber wie selbstverständlich würden alle ihm dort folgen, wo sie erkennten, dass ihre eigene Fähigkeit für die letzte Entscheidung versagt.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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