Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

29. - 30. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1940

Lektüre und Meditation

Immer wieder wird mir gesagt, meine Bücherschauen seien das Interessanteste, was ich drucken lasse, aber mehr noch stände in meinen Briefen. Letzteres ist nun sicher nur ganz ausnahmsweise der Fall. Doch das erstgenannte Urteil kann ich insofern anerkennen, als diese scheinbaren Kritiken fremder Bücher in Wahrheit mehr Persönliches offenbaren als meine eigenständigen Werke. In der Tat: wer alle meine Bücherschauen im Weg zur Vollendung seit 1920 im Zusammenhang übersieht, gewinnt eben damit, an der Hand von für sich nicht zusammenhängenden Einfällen und Zuständlichkeiten, ein mehrdimensionales Bild meiner Entwicklung und weiß mehr und Wesentlicheres von mir als der beste Kenner meiner Bücher.

Dieses Persönliche schicke ich voraus, einmal, weil ich es für richtig halte, meine Auffassung des Sachverhaltes auszusprechen; dann aber, weil es mir den besten Ansatzpunkt bietet zu den Betrachtungen, auf welche der Titel dieses Aufsatzes vorbereitet. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum irgend jemand, der über seine Lernjahre hinaus ist — von beruflich erforderlicher und reiner Entspannung dienender Lektüre natürlich abgesehen —, zu anderem Ende als dem persönlicher Förderung und damit inneren Wachstums liest. Stoff, der einen nicht innerlich angeht, beschwert nur. Wege zu begehen, die in keiner Hinsicht eigene Wege sind, führt zur Verirrung und im Grenzfall zur Entgleisung. Einsichten anderer, die einem nicht persönlich einleuchten oder aber durch Gegenbewegungen, die sie einleiten, andersartige Selbsterkenntnis vorbereiten, blenden das innere Auge. Das sachlich Interessante ist nie das wesentlich Wichtige. Darum scheidet für mich und meinesgleichen jeder sachliche Gesichtspunkt bei der Auswahl zu lesender Bücher grundsätzlich aus. Viele nun, welche sich in meinem Sinn zu ihrer Subjektivität bekennen, lesen darum überhaupt nicht; sie halten sich durchaus an das Eigene. Doch diese verkennen damit die wahre Situation. Auf Grund des Urgesetzes der Polarisation muss sich der Mensch mit dem Nicht-Ich polarisieren, um persönlich zu wachsen. Solches Polarisieren und nichts anderes bedeutet rechtverstandenes Meditieren. Und da das innere Wachstum in steter Wandlung verläuft, so ist von Zustand zu Zustand Polarisierung mit anderem vonnöten. Welches andere hier jeweils in Frage kommt, das zeigt das echte Interesse, im Fall von Büchern genau so wie von Frauen. Wer da nun allezeit aus wohlverstandenem Interesse liest und nur aus ihm heraus seine Auswahl trifft, dessen Lesen ist zugleich ein Meditieren, und die Folge der inneren Früchte seiner Lektüre ist, von außen her betrachtet, spirituelle Autobiographie: daher das Interesse, das meine Bücherschauen wecken. Über nichts schreibe ich in ihnen, was mich im Augenblick nicht wesentlich berührte. In der Berührtheit aber äußert sich allemal mein eigenstes Leben.

Vom ersten oder zweiten Hefte dieser Mitteilungen an gab ich meinen Lesern den Rat, ihr persönliches Interesse grundsätzlich als Symptom dessen aufzufassen, was sie im Augenblicke fördern kann, gleichviel was dieses sachlich geurteilt wert sei, und ihr Interesse so ernst als überhaupt möglich zu nehmen. Das Interesse erweist nämlich das Dasein eines schon vorhandenen Spannungsfeldes, das Polarisierung ermöglicht — ohne Polarisierung aber gibt es keine Schöpfung. Je reicher nun eine Natur, desto vielfältigerer Polarisierung bedarf sie zu ihrer Selbstverwirklichung; der freieste Geist wäre (wie ich schon im Epilog zum Gefüge der Welt zeigte) der, welcher sämtlicher Teile des Weltalls zur Evokation der in ihm wirkenden Pole bedarf und insofern der bedingteste Mensch ist. Darum wird ein Mensch, — je reicher ausgeschlagen er ist, sich sukzessive für desto Vielfacheres interessieren. Je weiter er nun kommt in seiner Selbstverwirklichung, desto weniger wird er es aus Interesse an der Sache tun: desto ausschließlicher wird er sein Augenmerk darauf richten, was die Erfahrung in ihm auslöst. Was für den Menschen letztlich zählt, weil es allein seinem möglichen Körper der Unsterblichkeit zugehört, ist nicht das Werk, sondern die Frucht des Werkes, nicht Sieg oder Niederlage, sondern deren Frucht, nicht die Sünde, sondern die Frucht der Sünde und so fort in schlechthin allen Hinsichten. Die Frucht von Lektüre ist nun in den meisten Fällen ein ebenso Verschiedenes von dem, was der betreffende Autor meinte, als es die von Sünden geerntete Frucht der Sünde ist gegenüber ihrer Wirkung auf andere. Aber auf diese Frucht allein kommt es wesentlich an.

Wer da in diesem Sinne liest, der muss an seinem Lesen innerlich wachsen. Aber selbst solches Lesen allein tut’s freilich nicht. Tief fördern die Gedanken und Bilder anderer den allein, welchem jede Lektüre Vorstufe zur Versenkung wird; zur Versenkung im Sinne echter Meditation. Hier kann ich zur Erläuterung schwerlich Besseres tun, als wieder von mir selbst berichten. Ich lese von jeher grundsätzlich nur, was mich anzieht, und dann, wann es mich anzieht. Dann aber lese ich nie in kritischer Einstellung, sondern im Zustande der absoluten Offenheit und Hingabe — christlich gesprochen: Demut-, den ich in einem der ersten Hefte dieser Mitteilungen unter dem Titel Von der einzig förderlichen Art des Aufnehmens behandelt habe. Später setze ich mich freilich auch auseinander; dann nämlich, wenn mein Eigenes Abgrenzung gegen Abzulehnendes fordert; nie jedoch während der Lektüre. Da folge ich dem Schreiber mit letzter Aufmerksamkeit von Zeile zu Zeile, wo immer meine Aufmerksamkeit und mein Interesse überhaupt gebannt werden, und beinahe immer geschieht es dann so, dass ich an irgendeinem Punkte haltmache, um mich in durch das Fremde ausgelöste Eigen-Bilder zu versenken. Diese Versenkung ist dann echte Meditation, die auf die Dauer die seit alters bekannten inneren Ergebnisse zeitigt. Aber sie ist echt eben darum, weil sie aus lebendigem Anlass von gegebener bestimmter Zuständlichkeit aus anhub.

Von hier aus gelingt es denn, der neuen Zuständlichkeit der Vorhut des Menschen­geschlechts gemäß den Sinn der Meditation überhaupt aus überalterten Begriffskrusten herauszuschälen. Alle Überlieferung hält an starren Schemen fest: gerade diese Starre muss epochal als überwunden gelten. Alle Freiheit äußert sich in der grundsätzlichen Überwundenheit von Gana, deren Routine den Menschen in der gegebenen Richtung nicht mehr beherrscht. Nun stammt alle überlieferte Meditationstechnik aus Zeiten, wo sich die Frage der Überwindung der Gana so gar nicht stellte, wie sie sich heute stellt. Wohl sollte schlechte Gewohnheit gebrochen werden, aber neue bessere sollte an die Stelle treten; so vor allem erdenthaftend wirkende an die Stelle der erdverhaftenden. Nun muss, alles Meditieren nicht allein mit der Gana rechnen — es muss auch mit ihr arbeiten. Das ist der Sinn der dem Meditieren gegenüber dem diskursiven und bewegten Denken eigentümlichen Fixierung und Wiederholung bestimmter Bilder- und Gedankenfolgen. Doch dieses Arbeiten mit der Gana ist, richtig verstanden, nur Vorstufe und Mittel zum Zweck. Ist einmal die Gana eingebrochen, so wie man Pferde einbricht, dann gelingt das Festhalten und Bewusst-Rekapitulieren genau so leicht, wie anderen das passive Schwimmen im Strom sich automatisch ablösender Gedanken. Und vom Festgehaltenen aus eröffnet sich dann eine neue Bewegtheit: nicht die der Gana, sondern die des Eigenlebens des Geistes und der Seele. Die unterste Stufe dieser Bewegtheit bezeichnet das Bildern, das der Hamburger Psychotherapeut Walter Frederking1 zu Heilzwecken verwendet. Über die Jungsche Schule hinausgehend hat Frederking erkannt, dass es beim modernen Menschen ein für allemal auf bestimmte Weise deutbare Bilder und Archetypen gar nicht gibt; dies geht so weit schon, dass sogar das Vater- und Mutterbild nicht mehr allgemein gültige Pole des Seelenlebens darstellen. So besteht Frederkings Heilmethode nicht in der Deutung der Bilder von Patienten, sondern im Hervorrufen oder Unterstützen von deren Ablauf in der Richtung, die er als dem nächsthöheren Zustand zuführend intuiert. Wobei sich denn herausstellt, dass die Bilderfolge in bestimmtem Aspekt die Wandlung selbst darstellt und nicht etwa nur Material bedeutet für ärztliche Deutung. Im gleichen Sinne habe ich lange schon erkannt, dass wirklich förderliches Meditieren auf der heutigen Menschheitsstufe nicht im Immer-wieder-Erleben bestimmter und bestimmt gedeuteter Bilder und Bilderfolgen besteht — wie es zumal die jesuitischen Exerzitien lehren, die ja auch niemand befreien, sondern nur an die geglaubte Wahrheit der katholischen Lehre binden —, sondern in der Versenkung in eigene, spontan erscheinende Bilder. Versenkt einer sich nun in diese, so wird er bald erleben, dass die Bedeutsamkeit jedes Bildes zeitgebunden ist; je tiefer einer sie meditiert, desto vollständiger erledigen sie sich irgendeinmal, und neue Bilder treten an deren Stelle. Da nun diese Bilderfolgen tatsächlich die Wandlung selber sind — denn die Seele lebt von und in Bildern, und was als Bild erscheint, ist dann nicht Abbild, sondern die seelische Tatsache selbst —, so bedeutet intensives Meditieren der eigenen Bilderwelt Wachstumsbewegung in der Richtung letzter Befreiung genau im selben Sinn, wie das traditionelle Meditieren in der Richtung der Gebundenheit an geoffenbarte Dogmen.

Nun dürfte der Zusammenhang zwischen Lektüre und Meditation, welchen der Titel dieses Aufsatzes voraussetzt, klar zutage liegen. Bei wohlverstandener Lektüre entscheidet das Interesse und damit das Echo, das bestimmte Bücher oder Buchteile im gegebenen Augenblick finden, für das betreffende Subjekt letztinstanzlich über den Wert. Die Lektüre eines Kriminalromans mit echtem Interesse (im Unterschied von Neugier) fördert insofern mehr als bloß pflichtgemäße Lektüre von Goethes Faust. Der Wandel des Interesses symbolisiert nicht allein den Wandel innerer Stadien, er ist dieser Wandel. Genau das gleiche nun gilt vom Meditieren. Nur gehört das Meditieren einer höheren Seinsebene an. Der Lesende folgt durchaus den Linien des geringsten Widerstandes und damit dem Ganagefälle; es bedarf keinerlei Anspannung und keiner besonders festgehaltenen Einstellung auf Höheres, um in diesem Sinne richtig zu lesen. Darum fördert die beste Lektüre nur den zu bildenden Geist, und nicht den ganzen Menschen. Richtiges Meditieren hingegen wandelt zwangsläufig den ganzen Menschen. Das macht, dass es in betonter Einstellung der Offenheit gegenüber Höherem geschieht. Europäer dürften mich am besten verstehen, wenn ich mich hier christlicher Nomenklatur bediene. Jedes Mehr-Werden setzt Lassen des Eigenwillens und der Eigen-Ansichten voraus im Sinn des Dein Wille geschehe. Solches Aufgeben nun bedeutet mitnichten Selbstaufgabe, sondern Aufgabe der vorhandenen empirischen Gestaltung. Auch wer sein Ich tötet, tötet damit nicht sein Selbst: er befreit es vielmehr aus dem im Kapitel Traurigkeit der Kreatur beschriebenen Gefängnis. Das Ich ist nur ein Organ unter anderen, nicht notwendiges Zentrum der Persönlichkeit; so kann es sich im Lauf der Verwandlung auflösen, wie sich die Organe der Raupe in der Puppe auflösen. Der beste Weg zu dieser Auflösung ist aber der der Meditation, weil das Ich, dem einer verhaftet sein kann, gar nicht das wirkliche Subjekt ist, sondern ein Vorstellungsbild desselben — und über unsere Vorstellungen sind wir Herren. In Dacqués letztem Buch stehen auf S. 284 einige Worte darüber, dass der Frühmensch sich durch den Raub seines Bildes auf Gnade oder Ungnade seinem Gegner ausgeliefert fürchtet, welche den wahren Sinn des Fluchs der Selbstsucht besser als jede abstrakte Darlegung erläutern:

Schon das Spiegelbild im Auge des Gegners genügt, um Macht über ihn (den Frühmenschen) zu gewinnen, vorausgesetzt, dass der andere sich der Manakraft zu bemächtigen versteht. Im griechischen Mythos greifen Giganten und Erdriesen den thrakischen Dionysos im Augenblick seiner magischen Schwächung an und zerreißen ihn, als er gerade in einen Spiegel sieht und sich dadurch selber abhanden kommt. Narziss verfällt den saugenden Vampyrgewalten der Unterwelt, weil er sich in sein eigenes, im Wasserspiegel erschautes Bild verliebt und daher seiner selbst nicht mehr mächtig ist.

Verhaftung an das Bild des Ich ist das Verderbliche; diese aber kann rechte Meditation des Sinns des Tatbestandes auflösen, da ja auf dem Gebiet des geistbestimmten Lebens der Sinn allüberall den Tatbestand schafft.

Meditieren hilft nun, um den Sachverhalt auf eine kurze Formel zu bringen, dazu, gemäß dem Tatbestand, dass es vom Subjekt abhängt, wohin es den Akzent in sich legt, und dem Gesetz, dass Aufmerksamkeit und Betonung real vitalisieren, innere Entwicklung zu beschleunigen, ja gar in Gang zu bringen. Gleiches nun gilt auf noch so viel niedrigerer Stufe und in noch so geringem Grad von der hier empfohlenen Art des Lesens. Wer so liest, der wird durch das Aufgenommene nicht bloß in seinem Wissen bereichert — jedes ihn wirklich interessierende Buch, auf dessen Interessierendes das Bewusstsein andauernd den Akzent legt, schafft neue Organe in ihm und verwandelt damit sein Wesen in noch so geringem Grad. Welchem Umstand nicht widerstreitet — es ist vielmehr ein Symptom der Verwandeltheit, dass bei solcher Art des Lesens vom Inhalt in der Regel wenig im Gedächtnis haften bleibt. Es ist innerlich verarbeitet worden, gleich wie das Ei im Embryo.

1 Zum Besten derer, welche sich von unserem Mitglied Frederking behandeln lassen wollen, schreibe ich hier seine Anschrift nieder: Hamburg 36, Fontenay-Allee 15.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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