Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

31. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1941

Bücherschau · Ignatius Donnelly · Atlantis, The Antediluvian World

Der Zufall wollte es, dass ich, kurz nachdem ich anlässlich Gabriel Tardes die erste Betrachtung dieses Heftes über die geringe Anzahl Einfälle, welche die Menschen seit Adam gehabt hätten, niederschrieb, in der Schönhausener Bibliothek einen alten Schmöker über den Atlantis-Mythos entdeckte: Ignatius Donnelly, Atlantis, The Antediluvian World (erste Ausgabe New York und London 1882). Wie ich ihn zuerst in die Hand nahm, fiel mir ein und auf, wie still es in den letzten Jahrzehnten um Atlantis geworden ist. Dieselben Menschentypen, welche vor zwanzig und mehr Jahren für oder wider Atlantis durchs Feuer gingen, begeisterten sich seither für Hörbigers Welteislehre, die Abstammung des weißen Menschen vom Nordpol (Herman Wirth), die Jahrtausende, während welcher es keinen Mond gegeben hätte (Hanns Fischer), oder die angebliche wissenschaftliche Wahrheit der alten Drachensagen (Dacqué). Ich kenne überhaupt nur ein Buch aus nicht recht ferner Zeit, in welchem der Atlantis-Mythos überhaupt eine Rolle spielt und dabei nicht die wichtigste: Rider Haggards Erzählung von She, who must be obeyed, der über unheimliche Kräfte verfügenden fernen Nachfahrin der Atlantiden in Afrikas Wüste. Wie ich nun eines Abends Donnelly zu lesen begann, da erkannte ich die Ursache dieses Vergessens: der Atlantis-Mythos ist zu wenig unwahrscheinlich, um heute noch aufzuregen. Andererseits hat die Wissenschaft neuerdings so viel Fernes und Abliegendes, z. B. die sibirische Abstammung der Europiden und die Tatsache von Wanderungen über unvorstellbar weite Räume hinweg lange vor aller Zeit, welche früher für historisch galt, nachgewiesen, dass die Überlieferung vom Untergang der Atlantis, der laut Plato ungefähr 9000 v. Chr. erfolgt sein soll, nicht imponiert. Nachdem ich nun einmal Donnellys Buch zur Hand genommen hatte, ließ es mich nicht mehr los. Das meiste dessen, was ich früher über diesen Gegenstand gelesen hatte, hatte ich vergessen. Mit frischen Augen damit an Neues herantretend, war ich wie nie früher fasziniert. Erstens durch den Reichtum der Überlieferungen über eine große durch Wasser untergegangene Kultur, deren Heimat zwischen Europa und Amerika lag, zweitens durch die Wahrscheinlichkeit alles dessen, was überliefert ist, und endlich über Donnellys herrlichen common sense. Ganz wie Newton scheint er sich das hypotheses non fingo zum Motto erkoren zu haben. Die meisten seiner Deutungen sind so naheliegend, dass sie wie Kolumbuseier wirken. Ich nenne nur die, dass die Sitte der Schädeldeformation, dank welcher die regierenden Kasten der Azteken und Inkas vogelähnliche Köpfe zeigten, wohl daher ruhe, dass eine bewunderte Herrscherrasse mit typischerweise fliehender Stirn ausgestorben war und nun von deren Nachfolgern aus Snobismus nachgeahmt wurde; dass die Seeungeheuer vieler Sagen, welche aus dem Meere ans Land stiegen, Kriegsschiffe eines hochkultivierten Seevolks bedeuteten, welche der Seefahrt unkundige Primitive überraschten, und dass die Götter Griechenlands ursprünglich Apotheose atlantischer Könige, welche wirklich regiert haben, darstellten.

Donnelly trägt alles zusammen, was von Atlantis und den mit dieser Insel verknüpften Sintflutsagen überliefert ist, vergleicht es mit dem, was wir von den nächsten Nachbarn des versunkenen Reiches, den Mayas und Mexikanern einerseits, den Ägyptern, Phöniziern und Iberern andererseits wissen, und gelangt zum Schluss, dass alles dafür spricht, dass es wirklich ein seither versunkenes Reich mit einer wunderbaren Kultur an der angegebenen Stelle gegeben hat, von deren überlebenden Kolonialablegern die ersten Kulturen in Amerika und in Europa abstammen. Mit Recht weist er darauf hin, dass sich in Ägypten überhaupt nichts von rohen Anfängen entdecken lässt, und ebensowenig auf hellenischem Boden — diese Kulturen scheinen vielmehr in hohem Grade fertig, wie Athene aus dem Haupt des Zeus, geboren worden zu sein, was doch wahrscheinlich macht, dass sie ursprünglich nicht autochthon, sondern Ableger höchstentwickelter Kulturen waren. Er erinnert an die rote Farbe, welche die Indianer wie die Ägypter auszeichnen sollte — sie tat es selten wirklich, dem half aber auf beiden Seiten des heutigen Atlantik Schminke nach. Er erinnert an hunderterlei nicht gleichartige, sondern identische Erscheinungen in Ur-Amerika und Ur-Europa, von den Pyramiden an bis zum Hausrat, an die große Ähnlichkeit des sagenhaften atlantischen Inselreichs mit dem des heutigen England (heute können wir hinzufügen: auch mit dem des minoischen Kreta) und gelangt zum Schluss, dass Plato in seinem Berichte darüber, was ein ägyptischer Priester ihm über Atlantis mitteilte, in allem Wesentlichen wissenschaftlich haltbare Wahrheit überlieferte.

Da sich der empfohlene Schmöker sicher noch in vielen öffentlichen Bibliotheken finden dürfte, empfehle ich ihn zur Lektüre. Sein Inhalt scheint mir wahrscheinlicher als das meiste, was neuerdings über die Ursprünge der europäischen Kultur konstruiert wird. Dies aber vor allem auf Grund der im ersten Aufsatz dieses Heftes behandelten ungeheuerlichen Einfallsarmut des Menschengeschlechtes. Der Gelehrte als Typus war von jeher der spezifisch einfallsarme Mensch, sonst verbrächte er nicht so gern und hartnäckig ein Menschenleben mit dem Nachweise der Richtigkeit eines einzigen Gedankens. Dass darum gerade er voraussetzt, dass Menschen an so vielen Orten erfinden und dazu so Phantastisches erfinden könnten, was die Sagen und Mythen berichten, dürfte füglich possierlich geheißen werden. Alle jüngste Altertumsforschung von Schliemann an hat Mal für Mal die Begründetheit, wenn nicht historische Wahrheit der meisten Überlieferungen erwiesen. Sie hat ferner erwiesen, wie wenige Rassen je begabt und erfindungsfähig waren. Die meisten sind in unserem Sinne überhaupt nie fortgeschritten, so sehr hassten sie jede Neuerung, und die meisten begabten sind schnell auf irgendeiner Stufe erstarrt.

So haben die Römer beinahe tausend Jahre lang keine einzige militärische Neu-Erfindung gemacht. Dagegen verläuft alle Kulturentwicklung von wandlungsfähigen, begabten Völkern ebenso phantastisch schnell wie die Entfaltung eines genialen Individuums. Dass so viele, die ohne weiteres an Dacqué oder Herman Wirth glauben, über den Atlantis-Mythos überlegen lächeln, liegt an dem sehr banalen Umstande, dass Atlantis eben versunken ist, weswegen an Ort und Stelle keine Überreste gefunden werden können. Sollte es sich nicht lohnen, wo heute unter anderen Techniken die des Tauchens und Absuchens des Meeresgrundes so weit fortgeschritten ist, sich auch der atlantischen Überlieferung neu zuzuwenden? Ich bitte, die Anregung weiterzugeben.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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