Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
31. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1941
Bücherschau · H. Fritsche · Tierseele und Schöpfungsgeheimnis
Angesichts der flugzeugartig geschwinden Fortschritte der Spezialforschung, welche allgemach auf allen Gebieten der Wissenschaft normale Erscheinung wird, bemühe ich mich alle fünf bis zehn Jahre, etwas wirklich gutes Zusammenfassendes zu lesen, das mich der Beschäftigung mit losgelöster Einzelheit enthebt. Neuerdings nun gibt es bezüglich der Tierseele ein Buch dieser Art, welches ich ob seiner umfassenden Tatsachenkenntnis, der Gedankenschärfe, mittels deren die Verarbeitung vorgenommen wurde, und nicht zuletzt der Gesamteinstellung des Verfassers, welcher wirklich weiß, was Geist und Seele sind, sehr warm empfehlen möchte: Herbert Fritsches Tierseele und Schöpfungsgeheimnis
(Leipzig 1940, Rupert-Verlag), von dem ich übrigens sehr hoffe, dass irgendein Mitglied es recht bald der Bibliothek der Schule der Weisheit stiften möge. Fritsches Grundgedanke — der aber keine Hypothese und keine prinzipielle Voraussetzung, sondern der Ausdruck erwiesener Wirklichkeit ist — ist die, dass Seele
allen Tieren gleichsinnig, nur freilich nicht gleichartig und -gradig eignet, dass hier zwischen Tier und Mensch kein Wesensunterschied und dass auch die Pflanzen eine echte Seele haben; an der Wurzel verschwimmen ja die Grenzen zwischen Tierischem und Pflanzlichem.
Was den Menschen von allen Wesen, die wir auf wissenschaftlichem Wege bisher feststellen können, unterscheidet, ist einzig und allein der Geist, der substantielle Geist, genau wie ich diesen verstehe (vgl. S. 111), der spielt beim Menschen die entscheidende Rolle von innen her, während die letzte Instanz des persönlichen Lebens aller anderen Geschöpfe die Seele ist, ob individualisiert oder nicht. Letzterer Unterschied ist in diesem Zusammenhang kein wesentlicher: das kollektive Unbewusste
des Menschen bedeutet auf seiner Stufe sehr Ähnliches wie auf der tierischen die Gruppenseele, überdies aber sinkt der Mensch, sobald er vermaßt und für solange als er Bestandteil einer Masse ist, in die tierhafte Gruppenseele zurück, aus welcher sich seine persönliche Seele unter dem Antrieb des Geistes herausdifferenziert hat (S. 148 und 382). Von dieser Voraussetzung aus betrachtet und durchdrungen, werden uns viele längst bekannte, aber noch nie richtig gedeutete Erscheinungen wenn nicht wirklich verständlich, so doch dem Verständnis näher gebracht als je zuvor. Ich nenne hier vor allem den tierischen Instinkt (S. 111 ff., 347 ff.), welcher immer einen gewissen Grad von Wahlfreiheit zulässt und darum nicht, ein so anderes es sei, von unserer Art, uns durch physische Reaktionen und Initiativen inmitten unserer Umwelt zu behaupten, wesensverschieden ist. Dann nenne ich das Problem des Bewusstseins und sein Verhältnis zum Schlafenden und Träumenden (S. 157) das Problem der Natursichtigkeit
, welches Fritsche exakter behandelt als Dacqué, der es zuerst als wirklichkeitsgemäß gestellt erkannte, das des gegenseitigen Verhältnisses von Freiheit und Gebundenheit bei Tier und Mensch (S. 250, 275, 375), und dann vor allem der tierischen Intelligenz, die sich, soweit vorhanden, bei den niedersten Tieren als gleichartig mit derjenigen des Menschen erweist, so dass von der Intelligenz her überhaupt keine scharfe Grenze zwischen beiden zu ziehen ist. Endlich nenne ich hier ausdrücklich noch Fritsches Behandlung der Fragen der Ursprünglichkeit und der schöpferischen Indifferenz, für welche sich paradoxalerweise zwei Höhepunkte in der bisherigen Schöpfung nachweisen lassen: erstens der Mensch, dann aber gleich das Infusor (S. 141, 224), welches als Körper die meisten Fähigkeiten der menschlichen Psyche aufweist. Was nun das konkrete Einzelne betrifft, so strotzt das Buch geradezu von Interessantem und Interessantestem. Freunde von Haustieren seien besonders darauf aufmerksam gemacht, wie sehr laut Fritsche und seinen Gewährsmännern die menschliche Seele die der mit dem Menschen zusammenlebenden und von ihm unterworfenen domestizierten Tiere infiziert hat und in jedem Einzelfalle besonders infiziert (S. 159), was beim Hunde so weit geht, dass dieser zum dauernden Träger des Unbewussten seines Herrn werden kann und ihm damit viel abnimmt
. Übrigens nehme auch das Schaf dem Menschen Wesentliches, aber nicht unbedingt Erwünschtes ab, und darum sei es gut, wenn Schafe gehalten würden (S. 255).
Fritsche ist offenbar nicht selber Biologe noch auch Tierzähmer oder -bändiger. Aber er hat die Forschungen anderer außerordentlich gut verstanden und vermag von dorther anderen Nicht-Biologen mehr Erkenntnis zu vermitteln als ein Fachmann, als welcher meist entweder zu viele Kenntnisse bei seinen Lesern voraussetzt, oder zu wenig Verstehensfähigkeit, weswegen sein Popularisieren leicht beleidigt. Anders steht es, wenn ein Meister seines Fachs gemeinverständlich wird. Dann vermag er freilich viel mehr zu vermitteln als irgendein Interpret, denn aus seinen Worten strahlt dann auch das Unausgesprochene mit aus. Ich erinnere an die populären Darstellungen aus ihrem Forschungsbereich von Alexander von Humboldt, Hermann von Helmholtz und besonders Karl Ernst von Baer, dessen unerreicht tiefsinnigen und sprachgewaltigen populärwissenschaftlichen Vorlesungen, welche zuletzt in der Serie Bücher der Weisheit und Schönheit
des Verlags des ehemaligen Türmers
(J. E. von Grotthuss) veröffentlicht waren, nun aber längst vergriffen sind, unbedingt neu herausgegeben werden sollten. Eine Schrift vergleichbaren Geistes kenne ich nun auch aus jüngster Zeit: Das Buch Die Seele
des großen Chirurgen August Bier (München, J. F. Lehmann’s Verlag). Seine überaus reiche persönliche Erfahrung als Arzt und Operateur hat Bier vom Menschen her den gleichen Grundeinsichten zugeführt wie die bedeutendsten unter Fritsches Gewährsmännern. Hinter allem Körperlichen steht die Seele, sie hat keinen besonderen Ort, es gibt eine Blutseele
genau so wie eine Gehirnseele. Insofern liegt das Problem beim Menschen nicht anders wie beim Tier. Aber hinter allem steht beim Menschen der Körper- und Seele-überlegene Geist. Diese persönliche und im hohen Alter als Vermächtnis ausgesprochene Einsicht des großen Arztes wirkt eben darum unmittelbar ergreifend. Gleichviel, ob nun jede von Biers Vorstellungen standhält: hinter diesem Buch steht nichts Geringeres als die Wahrheit, wie sie hinter jedem ganz Echten und Wahrhaftigen steht.
Die grundsätzlich gleichen Einsichten versucht nun Bernhard Hecke in seinem Buch Die Tierseele
(Greifswald 1939, Universitätsverlag Ratsbuchhandlung L. Bamberg) erkenntnistheoretisch zu fundieren, welche Fundierung übrigens durch zahlreiche hübsche Erzählungen aus dem Tierleben, unter denen besonders Heckes eigene vorzügliche Beobachtungen hervorgehoben seien, farbig illustriert wird. Hecke ist ein leidenschaftlicher Anhänger des Philosophen der Philosophie als Grundwissenschaft
Johannes Rehmke, und er will eigentlich nicht mehr sein als der Apostel dieses. Ich kenne Rehmke bisher nur aus Zitaten und bin nicht sicher, ob seine Art des Denkens mir persönlich liegen und ob seine Ergebnisse mir darum viel sagen würden. Aber ich gebe zu, dass Rehmke, nach Heckes Wiedergabe seiner Grundgedanken zu urteilen, vielfach zweifellos zweckmäßigere Begriffe zur Erfassung und Bestimmung der lebendigen Wirklichkeit geschaffen hat als die meisten anderen. Also mögen die, welchen erkenntnistheoretische Fundierung ihrer Einblicke in das Weben und Wesen der Natur viel bedeutet, auch Rehmke lesen. Jedenfalls aber empfehle ich unserem Mitgliederkreise (der Verfasser hat das Buch unserer Bibliothek gestiftet), zuerst einmal Hecke zu lesen. An dessen Buch werden sie jedenfalls ihre Freude erleben, schon wegen der schönen Menschlichkeit und echten Tierliebe, welche aus ihm spricht.