Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
31. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1941
Bücherschau · Gedichte
Mir werden häufig Gedichte, gedruckte wie ungedruckte, zugesandt, und da sich daraus häufig Missverständnisse und Misshelligkeiten ergeben haben, so möchte ich einmal etwas Grundsätzliches über mein Verhältnis zu Vers und Reim sagen. Ich bin musikalisch durch und durch, aber der bloße Anblick eines Gedichtes ist mir von jeher — unsympathisch gewesen. Zwar verschwindet die instinktive oder vorurteilsgeborene Antipathie sogleich, wenn ich entdecke, dass es sich um wirklich bedeutende und dazu mir verständliche Dichtung handelt (für viele für bedeutend geltende Dichtung, besonders lyrische, fehlt mir das Organ), aber ich für meine Person kann nur ganz wenige Gedichte der Weltliteratur als gut anerkennen; bei den allerallermeisten habe ich das unangenehme Gefühl, dass mir zugemutet wird, als Gereimtes zu bewundern, was in Prosa gesagt, wenn nicht ungereimt, so doch gänzlich belanglos klänge, wie dies von bloß privaten Gefühlen vom Standpunkt anderer immer gilt. Die allerallermeisten Gedichte stellen keine Wiedergeburten aus dem Geiste dar. Das ist nun wahrhaftig kein Wunder. Sehr wenige Worte reimen sich miteinander; nicht jedes Wort fügt sich mühelos jedem Rhythmus ein: also muss der Verskünstler praktisch mit einem noch sehr viel geringeren Wortschatz auskommen und in der Wortverknüpfung weit mehr Fertigware verwenden, als dies der sprachlich Unbegabte oder der Ungebildete aus innerer Dürftigkeit tut. Man denke nur an das Schauerliche aller Librettos, einschließlich der Wort-Dichtungen Richard Wagners, und an den sehr unzulänglichen Text der meisten Lieder — die der berühmtesten Volkslieder einbegriffen —: sie und nicht die so seltenen schönen Gedichte sind die Prototypen der Gattung. Gewiss könnte ich hier auch die gereimten oder rhythmischen Dialoge der allermeisten Dramen nennen, von denen die meisten, vorurteilslos beurteilt, unerträglich sind —, aber ich wählte absichtlich das Beispiel vertonter Dichtung: diese kann nämlich auch dann schön erscheinen, wenn die Musik gut, der Text aber miserabel ist und dieser mitgehört wird (was ich persönlich so selten als möglich tue): dann wirkt die allgemeine Stimmung der Dichtung oder ein einzelnes Wort als bereichernder Ober- oder Unterton der Melodie mit, und so kann die Gesamtwirkung größer sein als bei reiner oder absoluter Musik. Auf diese Tatsache gründete Richard Wagner seine Konzeption des Wort-Ton-Dramas. Überschätzen nun so viele das Gedicht als solches gegenüber der Prosa, so liegt das daran, dass der bloße Rhythmus der Sprache das Erlebnis des Sinnes in ähnlichem Verstande durch Mitschwingen von Unter- und Obertönen reicher macht, wie das Mitklingen eines an sich noch so minderwertigen Liedtextes den Gefühlsausdruck bereichert und vertieft. Hier nun bringt der Rhythmus an sich sehr tiefe Untertöne zum Mitschwingen, die bis zur Mineralität hinabreichen. Im Vortrag Erfindung und Form
von Wiedergeburt
habe ich mich ausführlich mit diesem Problem befasst.
Es ist also kein Wunder, dass Gedichte als solche beliebt sind. Noch weniger wunderbar ist, dass die Dichtung der Prosa überall vorangeht und dass Gedichte und Lieder desto mehr bedeuten, je weniger der Geist höchsteigene Bedürfnisse hat und je weniger scharf das Wortgewissen ist. Dem Rhythmischen in mir nun entspricht die unbegleitete Musik am besten — so sollten wir sagen, und nicht von Musikbegleitung zu Gedichten reden. Sobald ich jedoch Sinn
aufnehmen soll, dann fordert meine Natur extrem genaue Korrespondenz von Sinn und Ausdruck. Die kann nun bei Gedichten wegen der anfangs hervorgehobenen Beschränkungen (geringem Reimschatz, Angewiesensein auf bekannte Wendungen usw.) nur in einem Falle so genau sein wie bei guter Prosa: wenn ein höchstbegnadeter Dichter sich dieser Kunstform bedient. Von diesem gilt mutatis mutandis das gleiche wie vom ganz tiefen Sinneserfasser und -verwirklicher. Letzterer benötigt einen suprem geringen Wortschatz, weil jeder seiner Begriffe das Integral darstellt unzähliger möglicher Differentiale; indem er einen kurzen Satz ausspricht, verleiht er implizite ganzen Welten Ausdruck. Hierfür bietet die chinesische Weisheit den Prototyp. Gleichsinnig vermag der ganz große Dichter in den relativ sehr wenigen Wort- und Satzbildungen, die bei vorgegebenem Rhythmus für ihn jeweils in Frage kamen, trotzdem nicht nur mehr zu sagen, als er in ausführlicher Prosa sagen konnte, sondern schlechthin alles, was in das Bereich der angeschlagenen Geist-Töne gehört. Daher die überwältigend große Wirkung der wirklich großen Gedichte der Weltliteratur. Diese genieße und verehre ich nun wie wenige. Aber was soll einer, den die Natur nun einmal so veranlagt hat, wie ich es bin, mit nicht sehr großer Dichtung anfangen? — Darum urteile ich lieber gar nicht. Entweder sagen mir Gedichte gar nichts, oder aber ich finde sie schlechter, als sie wahrscheinlich sind.