Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

32. - 33. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1942

Vom Sündbewusstsein

Während der letzten Monate befasste ich mich, neben parallelgehenden Studien über katholische Mystik, viel mit modernster protestantischer Theologie. Deren markanteste Führer brauche ich nicht zu nennen, ich meine aber natürlich auch viele andere, insonderheit dem Christentum zurückgewonnene Psychologen und Psychotherapeuten, unter deren als bedeutendster der Züricher Theodore Bovet genannt sei. Es steckt eine ungeheuere Denkarbeit in den Werken dieser Männer, die sowohl der Philosophie wie der Psychologie einmal sehr zugute kommen wird. Halte ich mich nun aber an deren spezifisch religiösen Gehalt, dann fühle ich mich stärker befremdet als durch das seltsamste indische Sektierer- und Fakirtum. Es steht dem Menschen ja frei, in der ihm fassbaren Welt den Akzent dorthin zu legen, wohin er will, und den erwählten Ort oder Aspekt damit durch Vitalisierung zum tatsächlich, d. h. real bedeutsamsten zu machen. Aber ist es nicht phantastisch, dass Vertreter der Erlösungsreligion par excellence allen Nachdruck gerade auf das Nicht-Erlösbare, das auf seiner Ebene endgültig Schuldbehaftete im Menschen legen? Ein boshafter Skeptiker karikierte einmal die Lehre des extremsten Vertreters der hier gemeinten geistlichen Sippe mittels der These:

Gott hat den Menschen als Schwein erschaffen,
unter der Bedingung, dass er auch ein Schwein bleibe.

Die Karikatur ist schauerlich, aber sie ist nicht gänzlich unähnlich. Sünd- und Schuldbewusstsein sind nicht nur unbezweifelbare, sondern auch (zwar auf verschiedene Weise) wohlbegründbare seelische Tatsachen. Kein Tiefer hat sich je nicht nur schuldlos, sondern auch sündlos gefühlt. Sünde bedeutet nämlich zutiefst, wie es Bovet bisher am besten verstanden hat, das Bewusstsein dessen, dass einer seine eigene höchste Möglichkeit nicht verwirklicht und auch nicht den dazu gehörenden Willen aufbringt. Sündgefühl ist insofern völlig unabhängig von der Wahrheit und Gültigkeit irgendeiner Theologie und Moral, auch von der selber bewusst bekannten. Schuldig aber muss sich jeder nicht geistlich Blinde fühlen, sobald er sich tief genug in seine Seele versenkt, weil ein Leben, das nicht auf Kosten anderer Leben lebte, Wertverwirklichung, die nicht auf Kosten anderer positiver Werte erfolgte, unmöglich und sogar undenkbar ist, und weil der Geist im Menschen trotzdem eben dieses Unmögliche fordert. Insofern ist alles geistbestimmte Leben zutiefst tragisch, paradox und widerspruchsvoll. Den letzten Aspekt hat Emil Brunner in seinem Buch Der Mensch im Widerspruch (Berlin 1938, Furche-Verlag) am schärfsten herausgearbeitet, den zweitgenannten Kierkegaard, während ich mit Unamuno den Hauptakzent auf das Tragische gelegt habe. Vom Aspekt des Tragischen her konnte ich denn auch die mögliche Lösung des Widerspruchs aufzeigen: dieses Tragische ist die Basis des geistbestimmten Lebens, gleich wie die Spannung der Saiten die empirische Vorbedingung darstellt für das Erklingen der Melodie. Das eigentliche Menschenleben verläuft oberhalb der Tragödie.

Diese muss jedoch zunächst als Grundlage akzeptiert werden und durch diesen Akt ihrer Problematik verlustig gehen. Diese Akzeptierung lehren nun implizite alle großen und echten Heilsreligionen, von welchen keine das Erdenleben schöner und besser darstellt, als es tatsächlich ist. Und indem sie dabei den Nachdruck auf das mögliche Heil legen, heilen sie tatsächlich den welcher im Rahmen ihres Vorstellungsbereiches heilungsfähig ist. Dementsprechend haben sie auch alle Heilige hervorgebracht. Demgegenüber weiß ich von keinem protestantischen Heiligen. Woran liegt das? Eben daran, dass der Protestantismus, den ich hier meine und der heute wohl der einzige ist, welcher eine wirkliche geistliche Macht verkörpert, allen Nachdruck auf den Ort oder Punkt im Seelenkosmos legt, wo Widerspruch, Tragik, Paradoxie und Sünde tatsächlich als letzte Instanzen erscheinen.

Der angelsächsische Calvinismus hat sich durch die Flucht in die Tat vor den seelenzerstörenden Folgen solcher Akzentlegung gerettet; das ungeheuer Erfolgreiche des calvinisch inspirierten Menschen rührt eben daher, dass Arbeit und Tat hier furchtbarster, obschon zumeist unbewusst verbliebener seelischer Not entsprangen und entspringen. Der Gnadenglauben des Lutheraners hat die allermeisten seiner Vertreter nur oberflächlich gemacht, indem er die Lösung des gefühlten Konfliktes einfach Gott übertrug und den Menschen dergestalt um allen Gewinn des inneren Ringens brachte. Man gedenke hier des Gleichnisses der Betrachtungen von der Insekt-Imago, deren ganzes späteres Kräftekapital von den persönlichen Anstrengungen herrührt, die sie beim Auskriechen machte. Der letztinstanzlich Wort gläubige unter Protestanten ist auf der Ebene, auf der die Vorhut der Menschheit heute steht, geistlich überhaupt nicht ernst zu nehmen. Aber alle hier angeführten Abwandlungen des Protestantismus spielen auch keine geistliche Rolle mehr — wo sie es noch tun, kann dies nicht lange mehr vorhalten, denn gegenüber der in dieser Zeit offener denn je zu Tage liegenden Furchtbarkeit des Weltgeschehens kann solche die Tatsachen des Lebens ignorierende Religiosität keinen Trost mehr gewähren. So steht wohl auch den vielen Abarten des angelsächsischen Christentums, welche die Realität des Bösen und des Übels leugnen und behaupten, nur das Gute sei gottgewollt und jeder habe einen Anspruch auf alles Gute und Schöne auf Erden, eine Krisis bevor, die sie vielleicht nicht überleben werden und auf deren Verlauf ich ungeheuer gespannt bin. Man male sich nur aus, was die Christian Scientists- und New-Thought-Anhänger fühlen werden, wenn Amerika und sein Fortschrittsglaube in diesem Krieg nicht siegen… Woher nun aber die zweifellos sehr große werbende Kraft der Form des Protestantenglaubens, die allen Nachdruck auf das Heillose und nicht nur Unerlöste, sondern Unerlösbare im Menschen legt? Diese muss einem sehr tiefen Bedürfnis Genüge tun; anders kann es nicht sein.

Wir finden die Antwort auf die hier aufgeworfenen Fragen am leichtesten, wenn wir davon ausgehen, dass aller Fortschritt im modernen Sinn protestantischen Ursprungs und Geistes ist. Sie lautet: Im Glauben an einen unbegrenzten nicht nur möglichen, sondern sicheren Fortschritt des Menschen­geschlechts auf Erden erlöste sich der Mensch, der seines persönlichen Heils im Jenseits oder einem geheiligten Diesseits nicht mehr gewiss war. Wie irrational, darin jeden Jenseitsglauben überbietend, dieser Fortschrittsglaube ist, ersah man am besten an Sowjetrussland, wo Millionen bereitwillig jahrzehntelang Hungers starben, auf dass ihre Urenkel einmal bequemer leben könnten. Wie überzeugt sie dabei waren, beweist die eine Tatsache, dass sie auf die Fremden, welche es besser hatten, nicht einmal neidisch waren. Das gesamte ungeheuerliche Arbeitsethos des Abendlandes während des letzten Jahrhunderts nun hat das gleiche seelische Grundmotiv. Die Arbeit soll Erlösung sein oder doch dieselbe vertreten. Solche Arbeit aber bedeutet in Wahrheit Flucht vor sich selbst und Selbstentfremdung; daher die progressive Entseelung der fortschrittlichen Völker, die in Sowjetrussland, wie sich im russisch-deutschen Krieg erweist, schon ein bis dahin nicht für möglich gehaltenes Ausmaß erreicht hat. Da kann es denn nicht ausbleiben, dass die Seele sehr vieler Protestanten — unter Protestanten verstehe ich hier in erster Linie einen physiologischen Zustand — bereit sein muss, die Aufmerksamkeit eben darauf zu konzentrieren, was das Motiv der frenetischen Arbeit und des Fortschrittsglaubens war. Und das will sagen: auf den Widerspruch und die Verzweiflung und die Gnadenlosigkeit des natürlichen Menschen. Daher das plötzliche weltweite Einleuchten Kierkegaards, der noch vor wenigen Jahren sehr wenige innerlich berührte und zu den aller schwerstverständlichen Denkern der ganzen Geistesgeschichte gehört. Daher der erstaunliche Anklang der gleichfalls äußerst schwer verständlichen Existentialphilosophie. Von Kierkegaard den Ausgang nehmend, lehrt diese einen Nihilismus, welcher der Bewusstseinslage des fraglichen Menschentyps genau entspricht — ein herausgestelltes System, das einem inneren Zustand gerecht wird, wirkt immer einleuchtend und insofern erlösend, als es die inneren Konflikte auf einer objektivierten und neutralisierten Ebene außer sich zu erleben ermöglicht. Man erinnere sich meiner langen Ausführungen in der Neuentstehenden Welt darüber, dass Ideen nie als solche Erfolg und damit weitreichende Wirkung haben, sondern insofern sie repräsentativ sind für einen bestimmten gegebenen konkreten Seelenzustand. Der Erfolg der Existentialphilosophie hat nur ganz wenig mit deren Wahrheitsgehalt zu tun, er beruht beinahe ganz und gar auf dem nihilistischen Weltgefühl, das sie von innen her inspiriert.

Natürlich ist es der Zahl nach nur ein geringer Prozentsatz ernster Seelen, die vom Optimismus des Protestantenglaubens her bewusst in eine Weltanschauung der Verzweiflung einmünden. Bei den meisten äußert sich der gefühlte Konflikt darin, dass sie sich weiter zum Optimismus bekennen, diesen sogar frenetischer denn je betonen, dafür aber in ihren Taten Selbstmordwillen bekunden; ob sie nun, obschon keineswegs kriegerisch gesinnt, mit einem unter Abendländern bisher unbekannten Fatalismus den Tod ins Auge fassen oder aber sich totarbeiten. In Amerika, wo der bewusste Fortschrittsglaube am mächtigsten ist und schon am längsten und ausschließlichsten herrscht, äußert sich der gleiche Sachverhalt in organischer Devitalisierung — hier hat die kranke Seele direkt die Bildekräfte des Körpers angegriffen, während die Vorstellungswelt in verjährter, ihrem eigenen Zustand nicht mehr angepasster Form erstarrt. Auf Grund seiner Beobachtungen in Amerika konnte Alexis Carrel sein bahnbrechendes Buch Der Mensch, das unbekannte Wesen (deutsche Ausgabe: Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart) schreiben, welches vom Standpunkt des Arztes die Falschrichtung der heutigen Entwicklung aufzeigt. Es gibt aber nun kleine Kreise von seelisch lebendigen und tiefen Menschen, welche den gleichen Konflikt schon im Rahmen des gläubig festgehaltenen evangelischen Wortglaubens erleben; die sind es, die sich ehrlich und aufrichtig zur Sündhaftigkeit und Unerlöstheit und Gnadelosigkeit als letzter Instanz bekennen, für die damit die Heilsbotschaft des Christentums zu einer Botschaft des Gerichts geworden ist, und die sich durch diese befriedigt fühlen.

Das ist das Entscheidende. Sie fühlen sich wirklich befriedigt durch die im Grunde furchtbare Botschaft Karl Barths, welche die Furchtbarkeit der Calvinischen überspitzt, um nur den bedeutendsten unter den Extremfällen zu nennen; denn Emil Brunner verleiht zu einem erheblichen Teil allgemeingültiger Erkenntnis angemessenen Ausdruck. Wie dies psychologisch überhaupt möglich ist, kann ich innerhalb des beschränkten Raumes, der mir hier zur Verfügung steht, nicht ausführlich erklären — das habe ich im langen Kapitel Puritaner der Reise durch die Zeit getan, welche irgendeinmal vielleicht doch erscheinen wird, Nur so viel von den Ergebnissen der dortigen Studie: Es ist nicht wahr, dass der Mensch primär nach Glück strebt; viel eher kann man sagen, dass nichts ihm näher liegt, als sich sein Leben so schwer und so unangenehm als nur irgend möglich zu machen; was mit dem ursprünglichen Gefühl zusammenhängt, dass der Mensch zutiefst Geist und der Natur überlegen ist. Darum versucht er diese, je primitiver er ist, desto grausamer zu vergewaltigen; darum stellt sich nur der sehr tiefe und höchstkultivierte Mensch generös zu seiner ganzen Natur.

Aber die Akzentlegung auf das unerlösbare Sünd- und Schuldhafte im Menschen ist durch diese allgemeine und allgemeingültige Erklärung noch nicht erklärt. Letztlich ist sie Ausdruck der gleichen Verzweifeltheit, welche sich in der Tiefe aller Optimisten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr aufgestaut hat, als Kompensation des bewusst betonten Irrglaubens, welche Verzweiflung den schaurigsten Glauben als wohltuend empfinden lässt, weil er sie in ihrem Sosein, mit dem sie sich identifiziert haben, bestätigt. Dies aber ist möglich, weil diese Menschenart zu allertiefst fühlt, dass für sie das Heil nur jenseits ihrer Verzweiflung liegt — welches Heil die Heilslehren der hier gemeinten Sekten freilich sehr unvollkommen und unüberzeugend fassen, da sie das Heilende und Heilige von ihrer Bewusstseinslage her nicht echt empfinden können. In seiner tiefsten Tiefe glaubt sogar der Verzweifelteste nicht an ein ewiges Gericht, er braucht jedoch die als letzte Instanz anerkannte Verzweiflung als Etappe. Das hiermit Gemeinte und aus der Sackgasse Hinausführende ist es aber nicht, was den Theologien der Sünde ihre Anhängerschaft schafft, sondern gerade die Akzentlegung auf die Unerlöstheit selbst. Dieses sollte jeder, an welchen diese Problematik herantritt, meditieren.

Denn ist er sich über den Hintergrund des Besonderen und den Zusammenhang des Ganzen klar, dann wird er das Positive und Fördernde der noch so einseitigen Lehren einsehen und seinem geistig-seelischen Organismus bereichernd einbilden können. Jede einseitige Belichtung lässt den belichteten Aspekt schärfer und klarer hervortreten als eine allseitige. Insofern ist niemals Tieferes über die Phänomenologie von Sünde und Schuld gesagt worden als seitens der hier gemeinten Theologen und der von ihnen inspirierten Psychologen. Und nachdem bald zweihundert Jahre lang die psychologische Tatsache des Sünd- und Schuldbewusstseins systematisch ignoriert wurde bis zur Absurdität der letzten Jahrzehnte, wo der Tatbestand einfach geleugnet wurde, ist nichts wichtiger, als diesen mit äußerstem Mut und letzter Klarheit zu realisieren. Als Menschen im Widerspruch fühlen sich außerordentlich viele, besonders unter den äußerlich extrem Fortschrittsgläubigen unter unseren Zeitgenossen, zumeist doch. In diesen aber lebt uneingestandene Verzweiflung und Selbstmordwille. Sie alle sind irgendwie von der Sinnlosigkeit ihres Daseins überzeugt und neigen darum in erster Instanz dazu, sich diese bestätigen zu lassen, anstatt nach neuem Sinn zu suchen. Für sie gibt es einen Weg zum Heil nur über die deutliche Realisierung der Heillosigkeit. Und deren Vertreter sind, in dieser oder jener Abwandlung, alle Nachfahren Kierkegaards.

Nicht teil an diesem Zustand hat der ursprünglich katholisch Gesinnte, im Sinn des ursprünglichen Begriffs kat’-holou, vom Ganzen her. Denn wem nicht der Einzelne in seiner Empirie letzte Instanz ist, der ist physiologisch unfähig, sich letztinstanzlich als Sünder zu empfinden. Ihm ist, sofern er die Wirklichkeit furchtlos so sieht, wie sie tatsächlich ist, einerseits das Furchtbare des Erdenlebens akzeptierte Voraussetzung, aber andererseits fühlt er sich als Geist ursprünglich und wesentlich geborgen. Wie dies innerhalb der christlichen Mythologie der griechisch-orthodoxe Glaube am schönsten und tiefsten durch seine Lehre zum Ausdruck bringt, dass durch Christi Tod der Tod für jeden schon jetzt, mitten in der Drangsal und Qual, überwunden ist. Wer primär den Geist und nicht das Fleisch in sich realisiert, der kann sich, in der Tat, nicht letztinstanzlich sündig fühlen. Der empfindet seine Schuld- und Sündhaftigkeit im Zusammenhang mit den karmischen Folgen, welche er von vornherein auf sich nimmt, überdies als den dem Menschen gemäßen Weg zum Heil. Und darum kann ihn gelegentlich ein Schimmer der Heiligkeit überstrahlen, auch wenn er von der Heiligkeit noch Lichtjahre weit entfernt ist. Hiermit gelangen wir zur Beobachtung zurück, dass es unter Protestanten der Art, wie ich sie meine (naive Evangelische gehören nicht zu ihnen, auch wo ihr Lippenbekenntnis noch so ähnlich lautet), keine Heiligen gegeben hat. Nun können wir hinzufügen: Es kann unter ihnen keine geben. Diese besondere Religion kann der allein bekennen, welchem Heiligkeit persönlich unerreichbar ist, weil er wesentlich unvollendbar ist, mit seinen Widersprüchen steht und fällt. Es ist eine Unterwegs-Religion. Es ist eine Religion des Mitten-im-Konflikt-Stehenden und diesen Konflikt als für sich letzte Instanz Bejahenden. Darum kann diese Art Protestantentums auch keine Vorbilder, sondern nur Lehrer und Züchtiger hervorbringen. — Aber war nicht der urkatholische Savonarola auch so? Waren es nicht alle die vielen eifernden Mönche von der Inquisition an bis in unsere Zeit hinein? Der Vorzug der katholischen Kirche (wie natürlich auch der griechisch-orthodoxen) vor allen protestantischen Kirchen ist der, dass sie den Unterwegs-Typus des Christen als exzentrischen Sonderfall in sich hineinbezieht und nicht als letztgültige Gestalt, sondern eben als Exzentrizität bejaht. Eben das ist sie. Aber die heutige Welt, und zwar die ganze, nicht nur die konfessionell christliche, geht zur Zeit durch den protestantischen Zustand hindurch. Denn das Zeitalter des Fortschritts ist ein wesentlich protestantisches. Auch der Bolschewismus, dieses invertierte Christentum, ist von Calvin her leichter zu verstehen als von der Orthodoxie her. Daher die Menschheitsbedeutung wirklich überzeugter Spezialisten des Sünd- und Schuldbewusstseins in dieser unserer Zeit. Ich habe mein Lebtag mein eigenes Sünd- und Schuldbewusstsein so tief als irgend möglich zu erleben versucht. Jetzt aber, auf meine alten Tage, wo die Problematik der Barth und Genossen in mir längst überwachsen ist, habe ich trotzdem vom Studium der tiefen Exzentriker, welche dieser Aufsatz freilich nur andeutend behandelt, sehr viel gelernt. Erst dank ihnen ist mir manches als Erlebnis längst Vertraute vollends deutlich und geistig fassbar geworden.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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