Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

32. - 33. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1942

Bücherschau · Dr. Georg Lomer, Hans Eibl

Während neues Verständnis für das Göttliche Kind wieder einsetzt, gilt Gleiches in noch höherem Grade von der Göttlichen Mutter; das heißt, das Bekenntnis zur Gottheit in ihrem mütterlichen Aspekt tritt schon längere Zeit seitens immer weiterer Kreise in Erscheinung; diese Rückbewegung dem mittelalterlichen oder byzantinischen Zustande zu liegt sehr vielen der immer zahlreicher werdenden Rückbekehrungen zum Katholizismus zugrunde. Auch Ramakrishna betete vorwiegend zur Göttlichen Mutter. Das Verständnis für den Sinn dieses Geschehens fehlte bisher. Eine erste mir einleuchtende Deutung nun hat 1940 Georg Lomer gegeben in seiner vom Sonnen-Verlag Dr. Georg Lomer in Bad Pyrmont zu beziehenden, nur eine Mark kostenden kleinen Schrift Die große Heimkehr, ein Lorbeerkranz für die Allmutter. Dort spricht der Verfasser zunächst auf S. 89 vom Wechsel der Zeitalter und den Perioden des Weltenjahres; es wechsele in harmonischem Reigen immer ein männliches Zeichen des Tierkreises mit einem weiblichen ab. Darauf heißt es:

Man sollte nun meinen, dass die weiblich bestimmten Zeichen stets mit einem Übergewicht des entsprechenden irdischen Geschlechts einhergehen, und umgekehrt. Das ist auch der Fall, jedoch nicht in Gestalt offenbarer Vorherrschaft des betreffenden Geschlechtspols. Vielmehr setzt jedes Geschlecht sich in der Art durch, dass es die Fäden hinter den Kulissen des zu Tage liegenden Zeitgeschehens in der Hand behält und dadurch Verehrungsgegenstand des anderen Geschlechtes wird. So war das Widder-Zeitalter (etwa 2000 vor Christus bis etwa 0) eine Zeit großer Völkerwanderungen und damit verbundener Eroberungszüge, also ein schwertmächtiges Zeitalter. Andererseits aber eine Zeit der großen Mutterkulte. Die christliche Ära der Fische (etwa die letzten zwei Jahrtausende) drängte die große Mutter in den Hintergrund und setzte in Gestalt Christi das Mann-Prinzip auf den Thron, wenn auch in Form des gekreuzigten, also leidenden Lichtgottes. — Die heutige Wassermann-Epoche ist, wiederum, wie die Auftakte deutlich lehren, eine stark männliche Zeit. Sie wird also ganz folgerichtig wieder den Weib-Pol zum Verehrungspol werden lassen… Wir haben die Tatsache, dass immer die weiblichen Zeitalter den kosmischen Mann, die männlichen Zeitalter das kosmische Weib besonders ehren; ein Umstand, der sich auf die ganz natürliche Tatsache gründet, dass wir immer zu verehren und besonders zu vergotten pflegen, was wir selbst nicht haben. So lehrte der zarte und seelisch überaus feine Nietzsche den ihm durchaus gegensätzlichen Übermenschen, ein Gebilde, das in gewisser Art eine (freilich verzerrte) Verlängerung des Mann-Ideals der Fische-Zeit und gleichzeitig einen organischen Übergang zur positiv männlichen Wassermann-Zeit darstellt. Die kommende Zweitausendjahrwelle wird also genau entgegengesetzt polarisiert sein wie die Fische-Zeit. Die Epoche, der wir entgegengehen, diese Drachensaat vorwärtsstürmender Technik vertausendfachten, ins Weltall greifenden Betätigungsdranges, aber auch praktischen, endlich alle Grenzen überspringenden Kameradschaftsgeistes, wird gar nicht anders können, als aus ihrem tiefsten Kernbedürfnis heraus einen neuen Kult der inständigen All-Kraft zu schaffen, die einem Sich-selbst-aufs-neue-Gebären der Allmutter gleichkommt…

Das Vorhergehende bei Lomer bereitet auf vielen Umwegen dieses Ergebnis vor. Zu diesem Vorbereitenden und dem meisten, was in arideren seiner Schriften steht und mit dem ich mich in keiner Weise identifizieren kann, möchte ich nur dieses Grundsätzliche sagen, das sich auf alle Schriften aller Okkultisten im weitesten Verstande überhaupt bezieht: indem man sie liest, soll man niemals auf Einzelheiten insistieren und nichts wortwörtlich nehmen. Man glaube möglichst gar nichts, so wie heutige Menschen glauben, nämlich nicht im Sinne der Selbstsetzung geistiger Inhalte, sondern der Anerkennung vermeintlich wissenschaftlich erwiesener Tatbestände. Im Abendlande gibt es keine altbewährte Tradition und insofern keine psychologisch gesicherte Bereitschaft für Erleben und Verstehen von Übersinnlichem. Eben darum aber fehlen die Voraussetzungen zu wirklichkeitsgerechter Theorie. Liest man Derartiges überhaupt, dann tue man es, ohne Gewissheit zu suchen, schon gar ohne Schlüsse zu ziehen, mit weit geöffneter Seele und behalte, auf das innere Echo lauschend, das, was einem neue Verstehensmöglichkeiten öffnet. Hier kommt ausschließlich die Art Lesen in Betracht, die ich in der Betrachtung Lektüre und Meditation empfohlen habe. — In einer zehn Jahre früher erschienenen kleinen Schrift des gleichen Verfassers Die Evangelien als Himmelsbotschaft findet sich eine übrigens sehr beherzigenswerte Darstellung dessen, dass das Fische-Zeitalter, also das christliche, eins der furchtbarsten Leidenszeitalter, also keineswegs ein besseres als das vorhergehende Widder-Zeitalter war. Und hier muss ich sagen, dass ich Lomers persönlicher Deutung der christlichen Symbolik beinahe ohne Vorbehalte zu folgen vermag. S. 15 heißt es:

Denken wir doch einmal an die Passion Christi, an seine Gefangennehmung, Verurteilung durch unbarmherzige Richter, an seine Geißelung, Dornenkrönung und schmachvolle Kreuzigung. Wir haben mit alledem nichts anderes und nichts Geringeres vor uns als ein packendes Sinnbild des gesamten Fische-Zustandes. Hat dieser den Völkern nicht jene unermeßliche Fülle von Leid und Trauer gebracht, die vom Zeichen Fische gewöhnlich erwartet wird? War es nicht ein Zeitalter der Zerstörung aller alten arteigenen Volkskulte, namentlich des Sonnenkultes, z. B. bei Germanen, Mexikanern, Peruanern? Brachte es nicht eine unverkennbare Leidenslehre und die Verehrung einer dornengekrönten Leiche auf, anstatt lebendigen Lebens?! Ketzerkriege, die alles Widerstehende ausrotteten, Hexenverbrennungen, Kreuzzüge in ein feindliches, den Europäern wesensfremdes Land, die man für heilig ausgab? —

Selbstverständlich hat die christliche Ära auch ganz andere Seiten und Bedeutungen, auf welche ich oft genug hingewiesen habe, zumal im Kapitel Leiden des Buchs vom persönlichen Leben. Aber diese Seite ist auch wahr, und jetzt, wo die christliche Ära allem Anschein nach ihrem Ende naht, tut man gut, auch diesen Aspekt zu meditieren. Von ihm her allein scheint mir zu verstehen, wie aus dem Geist der Frohen Botschaft heraus die schauerlichste Zeit der Vernichtung heranreifen konnte, welche das Menschengeschlecht je sah.

Selbstverständlich vermag ich das wiederum nicht zu unterschreiben, was Lomer in der gleichen Schrift über Die Evangelien als Bluts- und Rassenmythos vorbringt. Darum wüßte ich, da mir dies eine Widerlegung erspart, diesen Abschnitt nicht sinnvoller abzuschließen als mit einer angelegentlichen Empfehlung der religionsgeschichtlichen Betrachtung Nordische Göttersage des Wiener Universitätsprofessors Hans Eibl, abgedruckt in der Wiener Zeitschrift Schönere Zukunft Nr. 15116 vom 7. Januar 1940. Überzeugend zeigt da der bekannte Historiker, warum das Christentum gerade für die Germanen eine frohe Botschaft bedeuten musste. Die nordische Göttersage war ein Untergangs­mythos, und

diese düstere Wendung war der mythische Ausdruck einer religiösen und sozialen Krise. In einem rationalistischen Zeitalter pflegen die Wortführer in einer solchen Lage ihrem Volk zu sagen: Wir verwerfen den alten Glauben, weil er ein Irrtum war. Die Germanen standen aber damals noch innerhalb des mythischen Schauens und verstehen daher: die alten Götter sind dem Untergang verfallen — vielleicht kommt ein neuer Gott. Die Germanen haben aus der Erkenntnis, dass ihre Götter Todgeweihte seien, das Christentum angenommen. Sie haben damit recht getan, weil sie in ihrem Mythos den Ausdruck einer metaphysischen Fehlentwicklung anbeteten; und sie blieben sich treu, wenn sie glauben konnten, dass teure Grundauffassungen durch das Christentum in einer Vollendung erhalten blieben, welche der überlieferte Glaube nicht erneuert hatte.

Diese Arbeit von wenigen, aber an Gehalt überreichen Seiten sollte eigentlich jeder Deutsche lesen, und viele sollten die Mahnung am Schluss beherzigen:

Wer glaubt, das Christentum als artfremden Mythos bekämpfen zu müssen, erweist den Vorfahren wenig Ehre, denn er behauptet, dass unter allen weltgeschichtlichen Rassen die nordische die einzige gewesen sei, die nicht wusste, wohin sie gehörte, und unsere Vorfahren wenig weise und wenig charakterfest waren, dass sie kostbares Eigengut hingaben, um minderwertige fremde Ware dafür einzutauschen. Es erschüttert aber zu gleicher Zeit das Vertrauen in die Zukunft. Denn wenn der Rasseninstinkt — das, was man heute gern Rassenseele nennt — sich im entscheidenden Augenblick des Eintritts in die Geschichte und noch dazu in einer Zeit, wo die Rasse noch allgemeiner Auffassung nach reiner war, so ungeheuer geirrt hat, was kann man dann von der Rassenseele für die Gegenwart und für die Zukunft erwarten, wo doch heute die Rasse viel mehr gemischt ist, als sie damals war? Man kann an die Zukunft nicht glauben, wenn man die Vergangenheit für verfehlt hält. Zum Glück stimmt mit dem für unser Leben und unsere Zukunft so wichtigen Vertrauen in unsere Geschichte und unsere Bestimmung auch die geschichtliche Wahrheit überein.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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