Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

32. - 33. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1942

Bücherschau · Richard Woltereck

Indem ich im vorhergehenden Abschnitt Lomer und Eibl unmittelbar nacheinander behandelte, wollte ich unter anderem ein Beispiel dessen geben, wie man gleichsam facettiert sehen kann — denn beider Arbeiten gehören offenbar verschiedenen Dimensionen an, und doch gibt es einen Punkt, von dem aus sie nicht nur auf einmal überschaut werden können, sondern welcher tatsächlich einen gemeinsamen Seinsgrund ihrer darstellt. Man muss eben in mehreren Dimensionen auf einmal zu denken fähig sein oder werden, so wie jeder selbstverständlich mit den drei Dimensionen des Raumes auf einmal operiert. Jetzt möchte ich eine weitere Koordinate in einer neuen Dimension ziehen, welche den gleichen allgemeinen Zusammenhang auf einer weiteren Ebene zu bestimmen gestattet. Ich meine den rein biologischen Aspekt des kosmischen Gesamtzusam­menhangs, Professor Richard Woltereck hat unserer Bibliothek seine zwei zusammenhängenden Bücher Grundzüge einer allgemeinen Biologie und Ontologie des Lebendigen gestiftet (Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart). Auf das Allgemeine, hauptsächlich der besseren Begriffsbestimmung Dienende dieser grundgelehrten Arbeiten will ich hier nicht eingehen. Dagegen nachdrücklich auf das Folgende aufmerksam machen, das zu den vorhergehenden Betrachtungen in unmittelbarer Beziehung steht. Die bloße Tatsache der Korrelation der Organismen, von welcher jeder mehr oder weniger weiß, beweist das Dasein eines nicht nur überindividuellen, sondern überartlichen Zusammenhangs, welcher vom Einzelnen her überhaupt nicht zu verstehen ist und der darum das Dasein eines übergeordneten großen Ganzen erweist. In dieser Richtung nun ist Forschung, seitdem ich zuletzt darüber las, sehr weit vorgedrungen. Es hat sich vor allem das Folgende ergeben. Das organische Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Organismen, die so oder anders aufeinander angewiesen sind, ist so, dass die Verhältniszahlen im großen und ganzen immer die gleichen bleiben und sich im Fall einer Störung des Gleichgewichtes immer wieder ausgleichen. Beim Menschen bewirken dies z. B. Seuchen und Kriege, und wo letztere ihre naturgewollte Rolle nicht mehr spielen, sind neue Regulative zu gewärtigen; so deute ich mir z. B. die rapide Abnahme der Achtung vor dem Menschenleben. Das Wichtige ist nun, dass die Natur niemals eindeutigen Sieg vorsieht. Im Falle einer Infektionskrankheit werden nie sämtliche Krankheitskeime zerstört, sondern nur so viel, dass der infizierte Organismus die Oberhand gewinnt über die in ihm weiterlebende Gefahr (wahrscheinlich liegt hier auch der Schlüssel zur Enträtselung des Geheimnisses der Immunisierung). Doch kann es natürlich nach langer Latenz immer wieder Rückfälle längstgeheilter Krankheiten geben. Andererseits scheint die Vernichtung eines großen Teils der jeweils Lebenden biologisch nicht schädlich, sondern günstig zu wirken. Hieraus erklärt sich, wieso geregelter Abschuss dem Wildreichtum zugute kommt und warum es wenige Jahre nach dem Weltkriege viel mehr Menschen gab als vorher, und warum Russland in zwanzig Jahren um gegen 40 Millionen Einwohner zunehmen konnte. Ferner hat sich erwiesen, dass es immaterielle Konstanten gibt für den Zusammenhang des Lebens, die sich freilich nur dann als Potenzen äußern, wenn materielle Substrata dafür vorhanden sind, jedoch unverbrüchlich gelten; wenn also etwas geschieht, gleichviel aus welchem Grunde, dann erfolgt es im bestimmten Verhältnis zu den übrigen Komponenten. Damit allein nun erweist sich jedes Sonderleben von einem großen Ganzen her bestimmt. Es sind nur bestimmte Kombinationen möglich — falls überhaupt etwas geschieht. So steht es denn — und damit gelange ich zum in diesem Zusammenhange Bedeutungsvollsten — auch mit dem individuellen Tode. Wir wissen jetzt, dass der individuelle Tod weder auf Grund der Autonomie des Lebens allein noch infolge äußerer Umstände erfolgt, sondern als Interferenzprodukt verschiedener, voneinander scheinbar unabhängiger Kausalreihen. Genau wie während eines Krieges mehr Kinder, insbesondere mehr Knaben geboren werden als sonst, so hat das jeweilige Lebensalter, in welchem der Tod typischerweise eintritt, das Aussterben bestimmter Typen und Familien, und umgekehrt der Sieg neuer Völker und psychologischer Typen ihre tiefste Ursache allemal in sehr weiten Zusammenhängen.

Man meditiere diese Einsichten. Und dann denke man von ihnen her an das Wunderbare, dass Frankreich nach seiner furchtbaren Niederlage von 1940 wie selbstverständlich anders zu denken begann als anderthalb Jahrhunderte lang vorher; dass in ganz Europa neue Typen plötzlich da sind, welche auch zur Führung reif erscheinen. Und dass die englische Führungsfähigkeit ebenso plötzlich auf der ganzen Linie versagte. Das ist einem mit Maikäferjahren und ähnlichem sinngleiches Phänomen. Seinen psychologischen Aspekt habe ich im Kapitel Symbolik der Geschichte behandelt. Doch dieser Aspekt ist eben nur ein Aspekt eines viel weiteren Zusammenhangs, dessen Umrisse oben angedeutet wurden.

Hier liegt denn auch der Ansatzpunkt zu einer haltbaren Kosmo- und Astrobiologie. Die kosmische Bestimmtheit des individuellen Menschen im grundsätzlichen Verstand der traditionellen Astrologie unterliegt überhaupt keinem Zweifel mehr, aber leider, leider sind die allermeisten auch unter den vorgeschrittensten Kosmobiologen immer noch abergläubisch; d. h. sie legen sich durch Kurzschlüsse und letztens Unhaltbarkeiten fest. Uranus, Neptun und Pluto wurden erst vor nicht langer Zeit entdeckt: welche Erfahrung erlaubt hier überhaupt, von bestimmten Eigenschaften dieser noch so rein symbolisch aufgefassten Gestirne auszugehen? Selbstverständlich habe ich nichts dagegen, dass begnadete Intuitive sich in der Sternensprache ausdrücken, aber es ist ausgeschlossen, aus deren Buchstaben und Buchstabenkomposition als solchen gültige Schlüsse zu ziehen. Hier ist die erst- und zugleich letztentscheidende Frage, die jeder stellen sollte, die: hat einer ein Recht, lieber in der Sternensprache als deutsch zu reden? Ich kenne Menschen, welche wirklich dieses Recht haben. Die meisten haben es aber nicht, und deren in gewöhnlicher Sprache nicht formulierbare Thesen sind darum allein schon mit größtem Vorbehalte aufzunehmen. — Thomas Ring, über dessen frühere Arbeiten ich in Heft 29 dieser Mitteilungen empfehlend schrieb, hat ein neues Werk Der Mensch im Schicksalsfelde (Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart) verfasst, welches in der wissenschaftlichen Förderung des Haltbaren an der Astrologie, und dieses Mal im Zusammenhang eines Gesamtsystems der Wissenschaften, einen guten Schritt weiterführt. Wer dieses Buch von der inneren Schau her, welche obige Betrachtungen zu fundieren versuchen, studiert, wird viel Genuss davon haben…

Erst nachdem ich das Vorhergehende niedergeschrieben hatte, studierte ich den zweiten Band von Wolterecks Philosophie der lebendigen Wirklichkeit Ontologie des Lebendigen genau durch. Die Lektüre fiel mir begreiflicherweise nicht leicht: es ist eine sehr gelehrte, sehr umständliche Arbeit; es fehlt der persönliche Stil, welcher ein Buch zu einem lebendigen Wesen macht, und es ist nicht leicht, aus der Überzahl der Berücksichtigungen die eigene Linie des Verfassers, das einzige, wobei es bei jedem Schriftwerk ankommt, und zugleich das, von dem allein das lebendige Fortzeugen abhängt, herauszuarbeiten. Nachdem ich nun aber die zu dieser Lektüre erforderliche Selbstüberwindung bis zum Schlusse geübt, stehe ich nicht an zu erklären, dass mir Wolterecks Auffassung vom Lebendigen von allen, welche Gelehrte bisher geäußert haben, die wirklichkeitsgemäßeste und zukunftsreichste erscheint. Diese Ontologie ist die erste, welche das Schöpferische des körperlichen, des seelischen und des geistigen Lebens von einem Standpunkte überschaut; es ist die bisher einzige, welche die Welt des Sinnes und der Werte ohne Vorurteil mit derjenigen des lebendigen Elementargeschehens in den Zusammenhang bringt, welcher ganz offenbar besteht; es ist die einzige, welche das menschliche Streben nach Fortschritt, Vollendung und einem höheren Leben von einem allgemeinen Entwicklungsbegriffe aus begreift, dessen Anwendbarkeit durch keine Tatsache widerlegt wird. Ohne ihn (leider) klar zu bestimmen, geht Woltereck von eben dem kosmischen Standpunkt aus, welcher Naturgeschehen und Denken auf einmal zu übersehen gestattet, den ich 1907 in meiner Prolegomena zur Naturphilosophie zu begründen versucht habe und von denen mir heute noch die Kapitel Die Erkenntniskritik als Zweig der Biologie und Naturgesetze und Naturerscheinungen unüberholt scheinen, obgleich dieses einzige wissenschaftliche Werk von mir eben darum seither selbstverständlich überholt worden ist. Woltereck wird nun sicher einmal zu einer Integration seiner bisher nur in breiter Differentiation vorliegenden Einsichten gelangen; und ebenso sicher wird er Schule machen. Hier denn setzt eine große Hoffnung von mir ein. Bisher hat kein Denker überhaupt verstanden, welche neue Wellenlänge (vgl. den Eingang zum Kapitel Heiligung des Buchs vom persönlichen Leben) mein Werk verkörpert und wie völlig unmöglich es ist, ihm von den bisher vernehmbaren her überhaupt gerecht zu werden. Nur darin kommt ein gewisses Verständnis zum Ausdruck, dass keiner mich sinngemäß (wenn überhaupt) zitiert. Woltereck nun unternimmt von außen her, als mittels des Verstandes Begreifender, eben dem substantiellen Geiste als Höchstausdruck alles bisher erfassbaren Lebendigen nahezukommen, den ich als bewusstes Sein unmittelbar vertrete und von dem meine Erkenntnisse so unmittelbare Ausdrücke sind, wie die körperlichen Organe nach Woltereck Ausdrücke sind eines innerlichen unräumlichen Impulses, der sich im Rahmen zeitlos geltender konstanter Normen verwirklicht. Sollten sich da nicht bald Gelehrte finden, welche es reizt, den substantiellen Geist, um den es mir geht, welcher Geist nichts Absonderliches ist, sondern nur eine schärfer artikulierte Form des allgemeinen Geist-Impulses darstellt, welcher alle geistigen Schöpfer beseelt hat, seinerseits in ihre Betrachtungen von außen her hineinzubeziehen? Diese sollten zuerst einmal den Leitaufsatz des vorhergehenden Heftes Geist und Persönlichkeit (wieder abgedruckt in den Betrachtungen der Stille), dann die Kapitel Geisteskindschaft von Wiedergeburt und Jesus der Magier von Menschen als Sinnbilder lesen; zumal die beiden letztgenannten Betrachtungen könnten für Biologen von entscheidender Bedeutung sein. Nachdem sie alsdann die Kapitel Der Einbruch des Geistes und Divina Commedia der Südamerikanische Meditationen und die Schlusskapitel des Buchs vom persönlichen Leben gelesen haben, könnten sie einsehen lernen, eines wie völlig anderen Gesichtspunkts als aller, die bisher eingenommen wurden, es bedarf, um dem Eigen-Leben des Geists gerecht zu werden. Hier kommt es überhaupt nicht auf Richtigkeit im Sinn der Wissenschaft an, ebensowenig wie es bei der Beurteilung seltsamer Organe bei bisher unerforschten Tieren auf deren Plausibilität auf Grund vorherbestehender Vorurteile ankommt, sondern auf den sinnbildlichen Ausdruckgehalt. Alle wissenschaftlichen Begriffe sind Instrumente zum Begreifen von außen her; vom Standpunkt des Eigen-Lebens des Geistes sind sie darum samt und sonders irrelevant, weil sie das Eigentliche überhaupt nicht berühren. Darum haben nur substantielle Geister in meinem Sinn und niemals Gelehrte für das eigentliche Leben des Geistes je Bedeutung gehabt. Ich als erster unter europäischen Geistern — das darf ich behaupten, gleichviel, wie weit ich auf meinem Wege gelangt bin — nun gebe in meinem Lebenswerk ein Beispiel des sich selbst verstehenden substantiellen Geistes, der sich verstehend von Stufe zu Stufe als Sein fortentwickelt (nicht von unzulänglichen zu besseren Begriffen fortschreitet) und der mit sich, seiner Seele und seinem Geist in gleichem Sinne experimentiert, wie die Biologen das mit Tieren tun. Sollte es sich da für Biologen nicht lohnen, mein Lebenswerk von diesem Standpunkt aus zu studieren? — Wolterecks Fragestellung bedeutet jeden falls den ersten mir bekanntgewordenen richtigen Ansatzpunkt zu dieser Aufgabe.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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