Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
34. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1943
Wahrheit und Richtigkeit
Im Buch vom persönlichen Leben und deutlicher noch in dessen gekürzter französischer Abwandlung De la Souffrance à la Plénitude (Verlag Editions Stock, welche Wehrmachtsangehörige in Frankreich nach wie vor kaufen können) zeigte ich, inwiefern ein echter und lebendiger Wahrheitsbegriff in der heutigen geistig — seelischen Situation des weißen Mannes nur in Funktion der persönlichen Wahrhaftigkeit zu fundieren ist. Ohne Überzeugtheit gibt es keine wohltätige Wahrheit mehr; die Zeit alleinseligmachender Sachlichkeit ist um. Heute möchte ich die fortan gültige Beziehung zwischen Wahrheit und Richtigkeit in ihren weitesten Umrissen bestimmen. Im allgemeinen verhalten sich Wahrheit und Richtigkeit natürlich so zueinander, wie Sinn und Ausdruck, und damit hat der Wert-Anspruch der Wissenschaft seinen Seinsgrund in der Allgemeingültigkeit des Gesetzes der Korrelation der beiden Begriffen jeweils zugrunde liegenden Wirklichkeiten. Seitdem Verstand und Verstehen im Menschen dominieren, kann darum eine Wahrheit
nie richtig
genug gefasst sein. Trotzdem ist es auch heute mit der Richtigkeit
nicht wesentlich besser bestellt als in Urzeiten: sie kann nur bestimmt werden in Funktion der jeweils rechten Gleichung zwischen Subjekt und Objekt, die aber hängt von der jeweiligen psychischen Konstitution ab. Darum kann von heutiger Erkenntnis trotz allem Gesagten nichts anderes behauptet werden als von urtümlicher: sie ist genau in soweit wesentlich wahr, als sie unabhängig ist von ihrer Richtigkeit.
Dass die allermeisten, wenn nicht alle tiefsten Einsichten, welche der Menschheit bisher auf- und einleuchteten, keinem modernen Richtigkeitsanspruch genügen, liegt so sehr auf der Hand, dass darüber kein weiteres Wort zu verlieren ist. Es ist Unsinn, wenn späte Kommentatoren, welchen es gelingt, Urweisheiten mit Wissenschafts-Erkenntnissen in Einklang zu bringen, behaupten, eigentlich
hätte der betreffende Große das sagen wollen, was er, der Kommentator, aus ihm heraus- oder in ihn hineinliest: er hat immer nur genau das sagen wollen, was er tatsächlich gesagt hat. Genau so ist es noch heute. Von außen und der wissenschaftlichen Objektivität her geurteilt, ist der Urausdruck des Geistes nicht der allübertragbare, alles Missverstehen ausschließende Ausdruck, sondern das sous-entendu, welches durchschauendes Verstehen voraussetzt, um auf seiner eigensten Ebene überhaupt wahrgenommen zu werden. Das nun liegt am Folgenden. Der Geist als Wirklichkeit sui generis drückt sich in erster Linie sich selbst, nicht anderen Wirklichkeiten gemäß aus. Darum wird jeder, und wäre sein Ausdruck noch so allgemeingültig, vollendet nur von seinesgleichen ganz verstanden. Es kann aber ein Geist sich selbst gemäß wirken, auch wo er gar nicht verstanden wird. Hieran liegt es, dass der Urkörper jeder Wahrheit auf Erden das, was sie eigentlich verschleiert, nämlich das — Mysterium war und ist. Und zwar ist das Mysterium gegenüber dem ohne weiteres verstehbaren Ausdruck wirklich der sinngemäßere, weil gerade die Unmöglichkeit, von der Oberfläche her zu verstehen, die eigenen Tiefenkräfte zur Tätigkeit aufruft. Eben darum ist, umgekehrt, die Erklärung die Mutter aller Stupidität. Wirken kann nun allein ein eigenständig-Wirkliches. Hierauf beruht es, dass von jeher nur substantielle Geister (im Sinn des von mir in Vom Denken zum Lebendigen Ursprung
begründeten Begriffs) gewirkt haben, und dieses unabhängig von aller Deutung und Missdeutung. Darum leben erfahrungsgemäß einige Jahrhunderte nach ihrem Tode nur noch die wenigen Geister als Menschheits-Gene fort, welche substantiell waren, während alle Erklärer, Deuter und Kommentatoren von Jahr zu Jahr gleich dem Herbstlaub abfallen und vermodern.
Die Richtigkeit, die trotz allem Gesagten als Wert bestehen bleibt, hat in Wahrheit eine ganz andere und eine sehr viel bescheidenere Bedeutung als die, welche ihr vom wissenschaftlichen Zeitalter zugestanden wurde: sie löst nicht Probleme, sie erledigt sie, indem sie dieselben aus dem Problemkreis lebendiger Geistigkeit eliminiert. Keinem heutigen Menschen ist das Einmaleins mehr ein Problem, wie es das dem Adam Ries offenbar war, oder wie der Syllogismus dem Sokrates. Die Richtigkeit dient dazu, die Basis des Selbstverständlichen zu verbreitern. Alles Richtige sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Darum braucht heute Religion oder Philosophie sich mit den Spezialfragen gar nicht mehr zu befassen, welche Spezialwissenschaft beantwortet, die aber einmal auch zu ihrem Reich gehörten. Hieraus aber folgt als Weiteres: dank dem Fortschritt in der Richtigkeit schält sich das Substantielle des Geistes immer reiner aus dem Funktionellen heraus. So winkt als Ziel der Geistigkeit nicht mehr die Universalwissenschaft, sondern der Gott mythischer Zeiten, welcher ist
und gar nichts erklärt
— nur von einer neuen geistig-seelischen Ebene her wahrgenommen. Gegen Ende der Zeiten könnte es dahin kommen, dass sich die Frage der Richtigkeit gar nicht mehr stellte, und dass doch nicht mehr, wie vormals, das Mysterium das letzte Wort darstellte, sondern klares Realisieren.
Diese Gedankengänge will ich hier und heute nicht weiter fortführen. Nur auf zwei Korrolare der andeutungsweise gewonnenen Einsichten sei noch hingewiesen. Die direkten Schüler eines Meisters waren noch nie von Belang. Sie konnten es nicht sein, weil sie dessen Substanz nur übernahmen, nie selbst verkörperten. Die Substanz ist nämlich nie im Wortlaut einer Lehre enthalten, sondern einzig und allein in deren schöpferischem Sinn. Wer in verba magistri schwört, ist ipso facto Fälscher. Fortgelebt hat die Substanz substantieller Geister immer nur so, dass sie in neuen substantiellen und damit eigenständigen Geistern Wiedergeburten erlebte. So lebte Jesus in Paulus wieder auf und später in Augustin und Luther. Das richtig-Verstehen nun haben andrerseits zu aller Zeit nicht-substantielle Geister vermittelt, deren Erkenntnisvermögen das einleuchtete, was sie nicht waren. Hier nun offenbart sich eine merkwürdige Parallele. Die substantiellen Fortpflanzer eines Geistes haben ihren geistigen Vater meines Wissens nie gekannt; wäre Saulus Jesus bei Lebzeiten begegnet, er wäre schwerlich je ein Paulus geworden. Aber ebenso verstehen die best-Versteher fast immer unbekannterweise
. Es hatte für mich von jeher etwas Unheimliches, zu konstatieren, dass historische Vergangenheit desto deutlicher und richtiger gesehen wird, je weiter sie zurückliegt. Das muss offenbar so sein. Hier liegt der eine positive Rechtsgrund der Hochschätzung der Nachwelt. Aber auch im Falle von Zeitgenossen pflanzt sich das Verstehen zumeist von Unbekannten zu Unbekannten fort. Darum möchte ich noch einmal auf die Werke von Otto Julius Hartmann hinweisen, mit dessen kurzer Würdigung unsere letzte Bücherschau schloss. Noch nie begegnete mir ein Geist, der so viel Klares und Richtiges
über bisher für geheimnisvoll dunkel Geltendes gesagt hätte. Bei der Lektüre beinahe jeder Seite, die esoterische Überlieferung betraf, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hartmann liest die dunklen Aussprüche der Mystiker vom modern-wissenschaftlichen Bewusstsein her so exakt richtig, wie je ein Entzifferer unbekannter Inschriften in vormals unbekannter Sprache den Sinn erfasste. Und dennoch fehlt Hartmann persönlich die Gabe, welche die Großen früher Zeiten zu Offenbarern macht. Er ist kein substantieller Geist. Aber er spiegelt deren Sein und Wissen wieder wie ein klarer See. Er ist damit ein Meister des Richtigen, gleich wie andere Meister der Wahrheit waren und sind.