Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

35. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1944

Terrorangriffe

Alle Zeiten, in welchen Menschen große Offenbarungen zuteil wurden, waren solche furchtbarer Art. Und noch nie haben äußere Schrecknisse die Spontaneität wahrhaft schöpferischer Geister gelähmt, im Gegenteil: in allen großen Fällen haben gerade sie die Eigenkraft ausgelöst oder gestählt. Schaurig waren die Zeiten, in welchen alle großen Mythen geboren wurden. Aus der Anschauung grausigster Not erwuchs das Bild des Prometheus, das Urbild seine Freiheit gegen die Übermacht der Welt realisierenden Menschentums, sowie dasjenige Hiobs, des Urtypus dessen, der dank der Tragfähigkeit seiner Seele duldend das Schicksal bezwingt. Schrecklich ist der Konflikt, welcher der Bhagavad Gita ihr unsterbliches Pathos verleiht; in großartiger Weise zeigt sie, dass und wie der Mensch um seiner Bestimmung willen Schuld auf sich laden muss. Entsetzlich war die Gewissensnot des Orestes, der sich für den Geist gegen das Fleisch entscheiden musste; unmenschlich grausam das Selbstopfer, zu welchem sein Sendungsbewusstsein Jesus trieb. Allemal hingen kollektive und individuelle Not unablöslich zusammen. In einem Allgemeinzustande ähnlicher Art, wie dem des heutigen Europa, ward Konfuzius der Tiefe altchinesischer Weisheit bewusst. Aus der Erfahrung unvorstellbarer Greuel erwuchs das tragische Lebensgefühl der Griechen; der ganze Sinn für die Heiligkeit des Lebens ist aus dem Mutterschoße kalter Lebensverachtung geboren worden und gleichsinnig alle Realisierung der Freiheit und allen Geisteswertes überhaupt unter dem Erlebnis von Zwang und Vergewaltigung. Zu der hier illustrierten Regel kenne ich keine Ausnahme. Was einem hochbegabten Menschen bloß einfiel — was unter beliebigen Umständen erfolgen kann — und nicht die Grundelemente seiner Substanz ergriff, wurde nie zur heilenden und verwandelnden und vorwärtstreibenden Macht.

Was einstmals nur Götterwillkür oder Laune in Menschen verkörperter Dämonen oder Naturkatastrophen bewirkten, bewirkt heute die technische Meisterschaft und Skrupellosigkeit zugleich des kalt überlegenden wissenschaftlichen Menschen. Der Mensch selber ist heute verantwortlich für alle Greuel der Welt, er ist böse geworden, wie noch nie vorher, weil er überall aus eigener Einsicht entscheiden will, und diese bei der Überzahl noch sehr gering ist. Unter den Greueln dieser Zeit nun wirken die Terrorangriffe aus der Luft am eindrucksvollsten, weil für sie keinerlei traditionelle Bereitschaft besteht. Darum äußert sich das Positive dessen, was ich vorhin meinte, am leuchtendsten in ihrem Fall. Erschreckend viele unserer Mitglieder sind von Terrorangriffen betroffen worden, mit so vielen von ihnen, als mir möglich war, habe ich persönlichen Briefwechsel gepflogen, und dabei beglückte mich dies: noch nie entklangen meines Wissens deutschen Seelen so tiefe und so reine Töne. Mochten solche, welche vor noch unbekannten Terrorangriffen bangten, demoralisiert erscheinen: wo solche stattgefunden hatten, gewahrte ich aus scheinbar durchschnittlichen Seelen — Hiob auf Hiob, Prometheus auf Prometheus — dem Sinne natürlich, nicht dem Formate nach — herauswachsen. Wie tief diese Transsubstantiation drang, bestätigten mir aus ihrer Sphäre Ärzte. Ein Psychotherapeut schrieb mir: ist einmal Deutschland durchgebombt, wird Psychotherapie vielleicht überflüssig geworden sein, denn jede Schein-Not, als welche jede Neurose sich darstellt, wird anscheinend durch bis an die Wurzeln des Seins erlebte elementare Not geheilt. Ein anderer Arzt berichtete mir, dass sogar körperliche Krankheiten in schwer heimgesuchten Gebieten in erstaunlichem Maße abnähmen: ein Beweis dessen, wie sehr alles Körperliche geistig-seelisch bedingt oder doch mitbedingt ist.

Ungeheuerliches, von keiner Bereitschaft aufzufangendes Unheil führt eben den Menschen, dessen Eigenkraft groß genug ist, um sich dem Äußerlichen gegenüber zu behaupten, und welcher den Mut hat, sich den Weg zur eigenen Tiefe nicht künstlich zu verbauen, alle Zwischenreichsgestaltungen durchstoßend zu seinem Ursprung zurück: das ist des Rätsels Lösung. Dies aber gilt heute mehr als je früher. Vom Zwischenreiche her gibt es keine heilbringende Lösung mehr. Darum wirkt auch das Kriegserlebnis nicht mehr so positiv, wie es dies einstmals tat. Der Krieg ist längst, so vernichtend und total er sei, vom Zwischenreiche aufgefangen worden, so dass sogar das eigene Sterben von der Vorstellung nicht mehr elementar empfunden wird und es möglich geworden ist, allen Anforderungen vorschriftsmäßiger Kriegsführung gerecht zu werden und doch oberflächlich zu bleiben. Darum begann das Leben im letzten Jahrhundert nach jedem Friedensschlusse neu und naiv, als habe es keinen Krieg gegeben; das elementare Erleben wurde vom Bewusstsein verdrängt oder in eine Provinz sonderlicher Art mit eigenen Gesetzen abgeschoben, in welcher der Kriegszustand als Ausnahmezustand normal und darum problemlos erscheint. Nur das Unerwartete, für das die Bereitschaft fehlt, das Verhängnis, für das es keine traditionelle Erklärung noch Rechtfertigung gibt, führt den Menschen, der sich im Zwischenreich verfangen und verhärtet hat, seinem lebendigen Ursprung wieder zu. Heldenepen, welche alle Menschen unwillkürlich ergreifen, sind nur aus Zeiten überliefert, wo kein Zwischenreichliches das Ursprüngliche domestiziert hatte.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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