Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

35. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1944

Zum Schicksal

Ich knüpfe an der oben mitgeteilten Lehre eines Esoterikers an: unter allen Umständen frommt dieser Glaube wie kein anderer, da er die Frage nach gerecht und ungerecht, verschuldet oder unverschuldet vom Standpunkt der Kausalverknüpfung in diesem Leben grundsätzlich erledigt, so dass sich damit die Frage, wie z. B. Gott derartiges zulassen könne, als falsch gestellt erwiese. Was das schauerliche Vernichtungswerk dieser Zeit betrifft, so ist so viel gewiss, dass die Natur bei großen Veränderungen nie anders handelt, und dass bisher alle Kulturen auf sehr ähnliche Art zugrunde gingen. Alles Irdische ist endlich, alle Vererbungslinien hören irgend einmal weiterzuwirken auf. Da bedingt der Unterschied zwischen Krieg, Seuche, Entartung oder Vitalitätsverlust, groß gesehen, nur einen technischen Unterschied.

Da überall im Leben das Ganze vor den Teilen da ist und das große Ganze wesentlich unoffenbar ist, so gilt es, zunächst sich mit obigem Tatbestande abzufinden. Es ist nun einmal die manifeste Welt nicht um des Einzelnen willen und dessen Normen gemäß erschaffen worden. Für den Einzelnen sinnvoll wird das Weltgeschehen allererst vom Einzelnen und Einzigen her, und dies zwar dann, wenn dessen Freies so weit entwickelt und mächtig geworden ist, dass es eine neue Kausalreihe schaffen und herausstellen kann, die wirklich von ihm herrührt und sinnvoll alles auf ihn zurückbezieht. Worin besteht nun diese Freiheit? In der verwandelnden Sinngebung. Was, vom Ganzen her gesehen, in bezug auf den Einzelnen ohne leise Bedeutung ist und diesen als Schicksalsträger zu völliger Bedeutungslosigkeit herabwürdigt, was umgekehrt, vom Einzelnen her geurteilt, völlig sinnwidrig ist, dem kann eben dieser Einzelne einen strikt persönlichen Sinn erteilen und dergestalt diesen persönlich bedeutsam machen. Nicht so zwar, dass nun das ganze Geschehen objektiv und theoretisch im Verstand der verallgemeinernden Wissenschaft sinnvoll erschiene, sondern dass ein bestimmter Mensch sein Schicksal, das ihn zunächst als ein persönlich Sinnloses trifft, nicht bloß in der Vorstellung zum Weg persönlichster Sinnerfüllung macht, sondern im vollsten Sinn des Wortes real. Hier handelt es sich recht eigentlich um mögliche Zaubertat. Wer also das Entsetzliche dieses Krieges als Gelegenheit auffasst, eine Aufgabe zu erfüllen und an ihr zu wachsen — was ja jeder von jeher an jeder großen Aufgabe, welcher er sich vollkommen hingab, tat —, dem verwandelt sich das äußere Geschehen, welcher Art immer dieses sei, zum Material und Wege persönlichster Sinnerfüllung. Auch das sinnloseste Geschehen wird damit zu einem so persönlich sinnvollen Schicksal, dass nachträglich naheliegt, das Geschehen auf eine gütige Vorsehung zurückzuführen, obwohl es einzig und allein im Einzigen selbst seinen Ursprung hat. Dies wird durch die eine Erwägung abschließend erwiesen: will und kann der Einzelne sein Geschick nicht also erleben, dann bedeutet es nichts.

Darum erweisen sich gerade schauervolle Zeiten als die größten Gelegenheiten, die der Freiheit des Menschen zum Souveränwerden geboten sind. Eben darum sind alle Großtaten der Geschichte in Zeiten entstanden, die der unseren ähneln. Eben darum sprießt gerade aus der Vernichtung kraftvollstes neues Leben. Eben darum gewinnen geistbestimmte Amputierte oder sonst Verstümmelte oder Verkrüppelte, sofern sie hohen Geistes sind, innerlich-geistig meist mehr als sie verlieren. Ohne seine Beinverletzung hätte ein Ignatius von Loyola den Jesuitenorden schwerlich gegründet, hätte sogar Roosevelt nicht die Energie entfaltet, die er seit seiner Lähmung beweist. Und vom japanischen Außenminister der Zeit, da ich dieses schreibe, Shigemitsu, steht fest, dass er, bevor er durch ein Attentat ein Bein verlor, ein eher apathischer Ästhet war, seither aber von Energie strotzt. Hier unterstützt den Geist das gnädige Naturgesetz, gemäß welchem ein Minus unter bestimmten Bedingungen durch ein Mehrfaches an Plus kompensiert wird. Wo nichts Körperhaftes vorliegt, hilft die Natur dem Geiste freilich nicht. Desto mehr jedoch bewirkt hier Sinngebung, weil sie da wirklich frei waltet. Denn hier setzt sie zu ihrer Auswirkung ganz andere innere Kraft voraus, und an eben jener wächst diese. Gerade auf dieses ganz Freie, vom Naturgeschehen Unabhängige, kommt aber alles an. Ein in diesem höchsten Sinne freier Entschluss bedeutet für die Seele und deren Erkraftung mehr als hundert vom Schicksal aufgenötigte. So frei ist freilich keiner, dass äußeres Erleben nicht mitwirken müsste bei der Sinngebung, aber es braucht nur eine auslösende Macht zu sein, gleich dem Anblick jenes Kranken, welcher Gautama den Weg zum Buddhatum wies.

Was ich hier Sinngebung heiße, ist das über den realen Sinn des Geschehens Entscheidende. Und zwar als Sinngebung überhaupt. Auf die Sonder-Art derselben kommt es merkwürdig wenig an. Ob einer sein schweres Geschick als Sühne oder Karma oder Prüfung oder Gelegenheit oder Antrieb deutet, kann gleich Günstiges bewirken. Immerhin dürfte das Folgende allgemein gelten: Wer an seine Unsterblichkeit glaubt, tut gut, den Akzent nicht auf die Fortdauer nach dem Tode, sondern das Leben vor der Geburt, die Ungeborenheit, zu legen. Wer nämlich den Nachdruck auf das nachher legt, unterliegt allzu leicht der Versuchung, sein Erleiden als Frucht der empirischen Daten dieses Lebens zu deuten und damit moralistisch, was ganz gewiss verfehlt ist. Es ist ganz sicher nicht so, dass in diesem Leben einfach Verdienste gehäuft oder Schulden gemacht, die dann später vergolten oder bezahlt würden. Wer nun innerlich von seiner Ungeborenheit ausgeht, dem bedeuten die Leiden und Freuden dieses Lebens nicht mehr, als sie tatsächlich bedeuten, sie bedeuten nichts von der Geburt Wesensverschiedenes. Bin ich von je unsterblich, dann können Sühne und Strafe kein letztes Wort bedeuten, und ebensowenig der Lohn. Dann stellt sich auch die Frage der Gerechtigkeit im banalen Verstand nicht mehr.

Und nun zum letzten: wer sich dem Schicksal gegenüber auf die angeratene Weise einstellt, der löst sich organisch aus den Fesseln des Kausalgesetzes. Goethe hatte so sehr recht, da er sagte: Lebhafte Frage nach der Ursache ist von großer Schädlichkeit, weil es nie ein Warum, sondern für jegliches Geschehen so viel Milliarden von Ursachen gibt, greift man nur weit genug zurück, dass die ganze Fragestellung sich durch diese eine Erwägung als absurd erweist. Das Urgesetz der Welt ist nicht das von Ursache und Wirkung, sondern — auch diese Einsicht verdanke ich dem vorhin gemeinten Esoteriker — dasjenige der Metamorphose. Gleich wie aus der Raupe durch die Puppe hindurch, in der sich jene restlos auflöst, der Schmetterling wird, ähnlich verwandelt sich alle Realität fortlaufend. Gibt es Wiederverkörperung, so bedeutet diese auch ganz gewiss nicht Wiederkehr des Gleichen, sondern Verwandlung zu Neuem. Der prototypische Ausdruck des Urgesetzes der Metamorphose auf dem Gebiet des Lebens ist das Enden des Lebens der Pflanze in der Frucht, die nicht mehr ganz sie selbst ist. Höhere Ausdrucksformen des gleichen sind das Wachsen an schwerem Geschick, Bekehrung, Verwandlung des Bösen in Gutes und umgekehrt. Das Kausalgesetz im üblichen Verstand ist der alleroberflächlichste und allermechanischste Ausdruck des Urgesetzes der Metamorphose. Und dabei ist dieser Ausdruck dem Verstande eigentlich genau so unverständlich, wie es die höheren sind; trotz der Denkgesetze, die kausalen Zusammenhang fordern, leuchtet nie wirklich ein, dass anderes aus dem einen folgen muss — denn es ist ja ein anderes. Das Entscheidende und im höchsten Grade Förderliche ist, die folgende Einsicht innerlich zu akzeptieren: Für wesentlich geistbestimmte Geschehnisse gibt es überhaupt kein Warum.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME