Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

35. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1944

Vom Menschen als Flugwesen

Schon in seiner Kulturgeschichte als Kultursoziologie hatte Alfred Weber von der entscheidenden historischen Bedeutung der Reitervölker gehandelt, nämlich als derjenigen, dank denen geschichtliche Bewegung überhaupt entstand. In der Krönung seines bisherigen Lebenswerkes nun, seinem Buch Das Tragische und die Geschichte (Hamburg 1943, H. Goverts Verlag), hat er seine Einsichten von damals bis zu ihren ins Metaphysische hinabreichenden Wurzeln vertieft, bis zu dem Punkt, wo jenes tragische Lebensgefühl möglich wird, das ich in den Südamerikanische Meditationen als erste Etappe dauernder Geistbestimmtheit zu nach dem dumpfen Zwischenzustand der Traurigkeit der Kreatur geschildert habe. Über dieses gerade in dieser Zeit entscheidend Wichtige — denn nur aus wiedergeborenem tragischen Lebensgefühl als Überwinders des Fortschrittsoptimismus der letzten zweihundert Jahre ist neuer Menschheitsaufstieg denkbar — will ich hier nichts sagen; dieses Buch sollte jeder Verstehensfähige nicht nur lesen, sondern meditieren. Dafür möchte ich die erdgeschichtliche Linie weiterführen, welche Alfred Weber von der Zäsur her, welche der Einbruch der Reitervölker innerhalb der vorhergehenden unhistorischen Existenz schuf, so eindrucksvoll bestimmt hat. Geschichtliche Bewegung begann wirklich erst mit der Vorherrschaft der Reitervölker, denn sie erst verkörperten im Großen aus eigener Initiative geborene Bewegung. Mit ihr verlor das Menschenleben seine selbstverständliche Pflanzenhaftigkeit und pflanzenhafte Selbstverständlichkeit. Überall traten die Gegensätze zwischen Erd- und Geisthaftem auseinander und wurden bewusst; die Gana trat den entscheidenden Platz Vernunft und Wille ab und das konservative Weibhafte dem Zerstörenden, Verwandelnden und Neuaufbauenden des männlichen Prinzips. Gewachsen sind überall nur kleine und enge Gemeinschaften; alle Reiche sind Geschöpfe der Einbildungskraft, desgleichen alle Normen, die nicht auf ererbten Reaktionsweisen und Konventionen beruhten. So hat der scheinbare Zufall der Zähmung und Nutzung des Pferdes das allererst möglich gemacht, was heute als primäre Eigenart menschlicher Existenz gilt.

Ob nun das Flugzeug ebenso gewaltige Veränderungen zeitigen wird? Im Herbst 1943, da ich dieses schreibe, soll man schon in vierzehn Stunden von Deutschland nach Japan und in sechsen von Amerika nach England fliegen können. Solche Geschwindigkeit zusammen mit der Möglichkeit, dieselbe zur Norm zu erheben und als Eroberungsmittel zu nutzen, und zwar im Ganzen leichter und billiger als je der erste Einsatz des Pferdes zu stehen kam, wird nicht umhin können, alle Beziehungen und Verhältnisse auf Erden zu revolutionieren. Bald werden Kleinstaaten und Kleinvölker sich völlig außerstande sehen, als exklusive und autarke Einheiten fortzubestehen. Die Menschenarten, welche in Funktion der Luft anstatt in derjenigen der Erde denken und fühlen, werden sich zwangsläufig im selben Sinn als prädestinierte Eroberer erweisen, wie ehedem die Reiter und Seefahrer. Zu Anfang als sehr seelenlose zwar, da sie völlig beziehungslos sein werden zu allem Vorherbestehenden und Althergebrachten, aber das waren die ersten Reitervölker auch. Nachdem diese sich jedoch bei ihrer eigensten Funktion als Ordner und Beherrscher beschieden hatten, schufen gerade sie später die Rahmen der Hochkulturen. Hier kommt nun alles darauf an, oder hängt davon ab, dass ein dem neuen Sein entsprechendes Bewusstsein erwache; denn bevor der Mensch sich nicht als den erkennt, welcher er ist, stehen seine Kräfte seiner Initiative nicht zur Verfügung, er wird nur blind getrieben. Eben dieses neue Bewusstsein wird in Amerika schon systematisch gepflegt. Lange schon ging dieses merkwürdige Volk bei allen entscheidenden Neuerungen von der psychologischen Aufklärung und Beeinflussung und nicht der Rückwirkung materieller Gegebenheiten aus. Wie Kalifornien fruchtbar gemacht werden sollte, wurde die Wüste nicht zuerst bewässert, o nein: zuerst wurde durch klügste Propaganda unter Millionen ein Apfelsinenbewusstsein geschaffen. Nachdem dieses da war, standen Kapital und Arbeiter für das Technische nicht nur sofort in größtem Umfang zur Verfügung, es machte sich alles in Blitzesschnelle bezahlt. Im gleichen Sinn wird heute im größten Stil darauf hingearbeitet, das bisherige Erdbewusstsein der nordamerikanischen Jugend in ein Luftbewusstsein zu verwandeln. Die neuesten Schulkarten stellen nicht Projektionen auf den Äquator, sondern auf den Nordpol dar; die primäre Aufmerksamkeit wird gar nicht mehr auf Länder, Völker und Staaten gelenkt, sondern nur noch auf Entfernungen in der Luftlinie. Schon heute sollen Hunderttausende von Lehrern ihren Auftrag vom Luftbewusstsein her erfüllen. Ist nun auch nur eine Generation Amerikaner primär luftbewusst erzogen, dann werden dieser die alten Unterschiedlichkeiten nicht mehr bedeuten, wie seinerzeit den Reitervölkern die bei der Eroberung vorgefundenen Zustände, welche sie besten Gewissens zerstörten. Ähnliches gilt ohne ausdrückliche Beziehung auf die Luft auch von Russland. Der Russe war zutiefst immer Nomade; Heimatgefühl im deutschen Sinne kannte er nie, nur der russischen Erde als Ganzem, von Polen bis China und Japan, fühlte er sich verbunden. Das Enge bedeutete ihm nie mehr als einer Rebhuhnkette das Feld, auf dem sie gerade einfällt. Bei der ungeheuren Freizügigkeit, die nun in Sowjetrussland in Friedenszeiten herrscht — es ist die einzige Freiheit, die dessen Bewohnern verblieb, und dank ihr ist Sibirien in unglaublich kurzer Zeit verhältnismäßig dicht besiedelt worden — unter Nichtachtung aller Bande von Blut und Boden, entsteht dort ein Weltgefühl sehr ähnlicher Artung, wie das amerikanische.

Damit erhält denn der zweite Weltkrieg einen neuen Sinn. Auch in Deutschland denken die Führenden nur mehr in Großräumen; tatsächlich kommen für die Zukunft solche allein noch in Betracht. Kein Volk ist auch schon im Flugwesen tüchtiger. Aber im übrigen wird bei uns gerade das bejaht und betont, was in USA und UdSSR verleugnet wird. Dies nun bedeutet durchaus nicht Reaktion, wie die Feindvölker wähnen, sondern den unbedingt erforderlichen Kontrapunkt im gleichsinnigen totalen planetarischen Geschehen. Zu diesem Kontrapunktischen gehört auch, dass Deutschland mit seinem Biologismus und Konkretismus die Rolle einer Minorität spielt. Siegte die reine Fliegermentalität, dann würde das Ergebnis so, wie es in China geworden wäre, wenn der Mongolensturm das letzte Wort bedeutet hätte; dort wäre dann ein kulturloses, geistig leeres und seelisch ödes Steppenreich entstanden. Tatsächlich aber begründete der Enkel Dschingis Khans, von den nur scheinbar Besiegten in den Dienst ihres Geists gezwungen, Chinas gesammelte Kultur, nur in einem so weiten Rahmen, wie ihn nur Reitervölker abstecken konnten; dort spielten die wurzelechten Chinesen die Rolle, die in Europa doch zugleich für die ganze Welt heute Deutschland spielt. Ähnliches geschah früher dank den Arabern in Persien; selber kulturlos, verhalfen sie dank ihrer zeitgeistgemäßen Gesinnung einem veralteten Volk zu einer herrlichen kulturellen Wiedergeburt. Im gleichen Sinne stellt der zweite Weltkrieg der Möglichkeit nach ein einheitliches Orchesterwerk dar, welches zu Positivstem führen kann. Deutschland kämpft gar nicht gegen den größten Teil der Welt, sondern im Großen ebenso fliegerisch gesinnt, vertritt es unter anderen überdies wichtigste Motive, welche die Feindvölker nicht als daseinsberechtigt anerkennen. So braucht sich Deutschland nur als europäische Vormacht zu halten — und damit hätte es soweit gesiegt, als ein Einzelvolk in unserer neuen Großraum-Welt überhaupt noch siegen kann. Wer dieses eingesehen hat, dem gewinnt dieser Krieg einen neuen Aspekt und Sinn. Wohl bringt er Zerstörungen von Unersetzlichem mit sich wie noch kein früherer; nur Vulkanausbrüche und Sintfluten haben ähnlich zerstörerisch gewirkt. Aber unter anderem fordert der neue Zeitgeist auch wachsende Loslösung von der Materie. Darum muss dieses Mal mehr an Altem zerstört werden, als früher zerstört ward: Damit aber erwiese sich rein materialistische Zielsetzung in Wahrheit nicht paradoxaler-, sondern kontrapunktischerweise als Weg zu einer neuen freieren Geistigkeit, die selbstverständlich nicht direkt von den Pionieren der Zerstörung herkommen, sondern von anderen Eltern her auf den Trümmern aufblühen wird.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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