Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

35. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1944

Bücherschau · José Ortega y Gasset

Die Freunde und Verehrer Montesquieus — er selber wohl erst recht — ärgerten sich oft über die bei seinen Lebzeiten übliche Salon-Diskussion, ob er nun an esprit philosophique oder nur ein bei esprit sei: dass die gleiche Frage nicht ein Hauptthema aller Gespräche über José Ortega y Gasset abgibt, kann ich mir nur dadurch erklären, dass ihn nur ganz wenige seiner verstehendsten Verehrer auf Spanisch gelesen haben; diese sind nämlich zu mindestens achtzig Prozent keine Spanier noch überhaupt des Spanischen mächtig; im iberischen Kulturkreis steht Ortega, bei aller Popularität, was sein Eigentliches und Wesentliches betrifft, so isoliert da, wie nur ganz wenige Denker irgendwelcher Zeiten. Ich wüßte nämlich überhaupt keinen Denker, dem so leicht die Etikette anzuhängen wäre, dass er ein bei esprit sei: keiner war je auch nur annähernd so geistreich, im französischen und darüber hinaus im hellenischen Sinn. Keiner war je so glänzend als leichter Styl; und keiner andererseits so sehr, so exklusiv an seine Muttersprache gebunden. Der so viel und so oft übersetzte Ortega ist in Wahrheit unübersetzbar. Denn sein Geistreichsein — und er schreibt immer vor allem spirituell im französischen Verstande des Wortes — beruht in ungewöhnlichem Grade auf der Gabe überraschender Verbalassoziation und darüber hinaus der Assoziation der sous-entendu, die jedes Wort und jeder Begriff impliziert oder ohne übergroße Gewaltsamkeit ermöglicht; als Beispiel nenne ich hier nur seine Wortwahl bei der Behandlung des Problems des Zusammenhangs des für-sich- und des für-andere-Seins unter dem Titel ensimismamiento y alteracion — alteracion, vom lateinischen alter, der andere, bedeutet zugleich anders machen im Sinne von verderben. Jede Seite Ortegas glitzert nun förmlich von solchem Geistesglimmer. Keiner kann behaupten, Ortega zu kennen, so gut er im übrigen um seine Theorien Bescheid weiß, der nicht aus tiefem Verstehen der spanischen Sprache beurteilen kann, dass und inwiefern Ortega der geistreichste aller bisherigen Philosophen ist. Er ist der größte bei esprit dieser Zeit. Wobei aber merkwürdig ist, dass dieser Geist von äußerstem französischen Esprit so wenig Affinität mit Frankreich hat; auch die Franzosen würdigen ihn kaum.

Noch in anderer Hinsicht und aus einem anderen Grunde wird Ortega bisher falsch gesehen. Seine Grundgedanken hat er überhaupt noch nicht in solcher Prägnanz und Ausführlichkeit veröffentlicht, dass von irgend einem Leser seiner Schriften zu verlangen ist, dass er jene kenne; und es hat etwas Pathetisches, wenn Ortega neuerdings in Anmerkungen darauf hinweist, vor Heidegger oder Scheler oder anderen hätte er diese oder jene Wahrheit vertreten; hat er es öffentlich getan, dann nur so nebenbei, oder vor der sehr kleinen Hörerschaft der Madrider philosophischen Universitätsvorlesungen, oder im Privatgespräch, oder in einem leichten Essay über ein abliegendes Thema. Nun fühlt aber jeder, dass Ortega auch ein tiefer Philosoph sein muss: so ergeht es ihm, der nur um wenige Jahre jünger ist als ich, wie einem Zwanzigjährigen; er wird als Versprechen bewundert, als welches ja allezeit mehr, als jede mögliche Erfüllung ist. Ihm wird trotz zahlreicher Veröffentlichungen alles das vorgegeben, was er nie veröffentlicht hat. Sein Prestige als Philosoph ist somit in den Tatsachen noch gar nicht begründet. Denn vom Aufstand der Massen und sonstiger noch so scharfsinnigen Zeitkritik kann kaum behauptet werden, sie verkörpere tiefe Philosophie. So gilt auch in dieser zweiten Hinsicht der Ortega-Kultus dem unbekannten Gott.

Darüber hinaus nun halte ich für unwahrscheinlich, dass Ortega jemals, auch wenn er sein angekündigtes Hauptwerk über die vitale Vernunft vollenden sollte, den Voraussetzungen, unter denen er heute als Philosoph verehrt wird, gerecht werden wird. Er ist nämlich durchaus ein Mann der Aperçus und der ersten Anregung. Und ich meine hier gerade Anregung und nicht spermatische Befruchtung. Seinem Hauptberufe nach wird Ortega wohl für alle Zeit als der erste Europäisator Spaniens dastehen: das bedeutet nicht Journalisten- und Kritiker-, schon gar nicht Unternehmertum, sondern ähnliches wie das, was Leibnizens allseitigen Einfluss auf das damalige Europa ermöglichte. Es hat sich seit über einem Vierteljahrhundert nichts von geistiger Bedeutung auf der Welt ereignet, was Ortega nicht interessiert und was er nicht auf seine Art in das iberische Geistesleben hineingeleitet hätte. Und das jedesmal in so überraschend pointierter Form, dass, wenn ich mich nicht gar sehr irre, nach wenigen Jahrhunderten Sammlungen Ortegascher Geistesblitze zu den gelesensten Büchern über unsere Zeit gehören dürften. Seine Sprache ist von antikischer Prägnanz, von keinem Lebenden könnten gleich viel kurze Formulierungen für sich bestehen. Aber auch er selber denkt vornehmlich in aperçus. Er ist gleichsam geborener Fragmentator. Was bei antiken Werken die Zeit zerstört hat, wobei aber Ruinen stehen blieben, die alle spätere Zeit zu Rekonstruktionen anregen, das verhindert bei Ortega schlechte Gesundheit oder Mangel an physischer Vitalität schon am Entstehen. Woraus folgt: sein Fragmentarisches ist zu einem erheblichen Grade äußerlich bedingt und trotzdem sinnvoll.

Seit 1935 hatte ich nichts Neues von Ortega gelesen. Kürzlich wurden mir nun vier Bändchen zugesandt, die er während der Jahre seiner freiwilligen Verbannung in Argentinien veröffentlicht hat, betitelt: Esquema de las Crisis, Historia como sistema, Teoria de Andalucia und Goethe desde adentro. Es sind alles Sammelbände, enthalten Vorträge und Aufsätze sehr verschiedenen Gewichtes aus verschiedener Zeit. Aber sie enthalten vor allem neues von sehr viel größerer Prägnanz und stärkerem Erfüllungscharakter (gegenüber den üblichen ortegianischen Versprechen) als alles früher von ihm Veröffentlichte. Im Bande Teoria de Andalucia (ausgerechnet dort!) ist die erste bedeutende Darstellung der Bedeutung Wilhelm Diltheys zu nennen, von der ich überhaupt weiß; im Bande über Goethe die wunderbare Evokation dessen, was Goethe hätte erreichen können und sollen, aber tatsächlich nicht erreicht hat. Der Band Historia como sistema enthält Ortegas Geschichtsphilosophie; deren Hauptmasse bildet eine blendend klare Durchleuchtung des römischen Wesens, welche in eine Unterscheidung zwischen Leben als freies Ausströmen und Leben als Anpassung ausklingt. An Bedeutung überwiegt aber alle Bücher das Bändchen Esquema de las Crisis. Ich halte dieses Werk Ortegas für sein erstes Buch, das auf der Höhe seines Weltrufs steht.

Hoffentlich erscheint es bald in irgend einer erheblichen Mehrheiten zugänglichen Sprache, denn jeder denkfähige Europäer sollte dessen Thesen meditieren, Ortega zeigt hier, worin Weltkrisen im Unterschied von den von Generation zu Generation üblichen Änderungen des Zeitgeists überhaupt bestehen; inwiefern nur das Echte eine historische Macht darstellt — seit langem lebte Europa nicht mehr aus seinem Innersten heraus; inwiefern jeder Dauerzustand von Extraversion barbarisiert, ganz einerlei, wie kultiviert die Betroffenen sonst seien — nicht an der Invasion der äußeren Barbaren, sondern an der Barbarisierung der Römer selber sei das Römische Reich zugrunde gegangen; warum Perioden der Echtheit immer nur ganz kurz sein können — bald gewinnen die Umstände der Umwelt die Oberhand und klassische Perioden seien unabwendbar solche der Verlogenheit; dass auf das Mittelalter die Herrschaft cartesianischer Klarheitssuche folgen musste, weil die mittelalterliche Lebensstruktur unerträglich kompliziert geworden war; inwiefern es ein Vorurteil bedeutet, Erkenntnisstreben überhaupt als historisches Motiv vorauszusetzen; inwiefern Problemlösungen in historischem Verstand grundsätzlich nicht erkenntnismäßige Lösungen bedeuten, sondern lediglich solche des erzielten Gleichgewichts der vorhandenen Kräfte; inwiefern jeder Mensch, auch der Skeptiker, von einem Grundglauben lebt; inwiefern man eigentlich nie einen Glauben hat, sondern von ihm gehabt wird — darum gibt es grundsätzlich nur kollektiven Glauben; warum das Christentum sich dem Hellenismus einbilden musste, um fortzuleben und nicht umgekehrt; es gab damals nur einen griechischen Logos, und

in seiner Theo-logie, seinem Reden von Gott, war der Gott christlich, aber der Logos griechisch, es gibt keine zwei entgegengesetzteren Inspirationen, als die christliche und die hellenische, so hat der griechische Logos von Anbeginn an die christliche Intuition verraten.

Weiter sagt Ortega wunderbar Tiefes über das Ende des modernen Zeitalters, welches wir erleben; es habe von 1600 bis 1900 gewährt, nun aber stürbe es, denn der Glaube an die Göttin Vernunft im Unterschied zur göttlichen Offenbarung sei nun endgültig tot. Und so weiter. Dies Büchlein enthält Anregungen zu Hunderten von wichtigen Gedankengängen. Mit diesen absichtlich wenig sagenden Hinweisen möchte ich meine Empfehlung beschließen — als andere Alternative kämen nur ausgiebige Zitate in Frage; wer irgend Spanisch oder Italienisch oder auch Lateinisch kann, der lasse sich die spanischen Originalwerke vom Verlag Revista de Occidente in Madrid, Bárbara de Braganza 12, kommen.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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