Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

35. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1944

Bücherschau · Ernst Kretschmer · Geniale Menschen

Es ist jetzt endlich eine wirklich tiefdringende und zugleich umfassende, eine wirklich verstehende Psychologie des genialen Menschen geschrieben worden: das ist Ernst Kretschmers zwar schon früher veröffentlichtes, jedoch in seiner Neuauflage (1942) erst auf den höchsten heutigen Erkenntnisstand gebrachtes Buch Geniale Menschen (Berlin, Springer-Verlag): ich möchte buchstäblich jeden, welcher so oder anders mit hochbegabten Menschen zu tun hat, bitten, es nicht nur zu lesen, sondern zu meditieren, und damit wenigstens die Mitglieder unserer Gesellschaft es nach und nach zur Kenntnis nehmen können, bitte ich ein vermögendes unter ihnen in bezug auf dieses Buch besonders herzlich, ein Exemplar der Bibliothek der Schule der Weisheit zu stiften. Ich weiß nicht, wie weit oder wie nahe Kretschmer mit meinen Werken bekannt ist (Anfangs der zwanziger Jahre besuchte ich ihn einmal in Marburg und bei einem meiner Sammelbände hat er mitgearbeitet): jedenfalls vertritt er durchaus meine Lehre, dass es die Spannungen der Natur sind, welche Geistesverwirklichung ermöglichen. Und er erweist deren Wahrheit an so reichem bestausgewählten eindrucksvollen Material, dass nunmehr jedermann einsehen könnte, wie ganz anders große Menschen beurteilt werden müssen, als geringe, und wie falsch es zumal ist, zwischen deren Verzügen und sogenannten Fehlern scheiden zu wollen: allüberall bedingen die einen die anderen. Eine besondere Freude machte mir bei der Lektüre die Feststellung, wie sehr Kretschmer Reibmayr, für den ich jahrzehntelang beinahe allein eingetreten bin, Gerechtigkeit widerfahren lässt. Dessen Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies aus dem Anfang dieses Jahrhunderts muss in der Tat heute noch als bisher beste General-Behandlung dieses Themas gelten. Heute steht völlig sicher wissenschaftlich fest: nur innere Spannungen machen produktiv; je stärker der Kontrast zwischen den Erbanlagen der Eltern, der in vielen bedeutenden Fällen, so zumal bei Bismarck, in Kretschmers Worten, bis zur Keimfeindschaft gegangen ist, desto mehr erscheinen alle Erbanlagen mobilisiert. Hier haben wir das erbbiologische Pendant zu C. G. Jungs Hauptlehre seiner Energetik der Seele, dass deren Gefälle nie groß genug sein kann und dass darum kein falscheres Ideal je verehrt worden ist, als das der Harmonie als Ergebnis des Ausgleichs aller Spannungen. Ausgleich sei immer der Anfang vom Ende oder aber das Ende selbst. Ausgesprochen pathologische Genies sind nun sehr oft vom psychologisch-psychiatrischen Standpunkt behandelt worden, so zumal Rousseau, Nietzsche, Hölderlin (obwohl auch von diesen erst Kretschmer das wirklich entsprechende Bild gibt); in Geniale Menschen ist die Behandlung der berühmt normalen unter ihnen besonders lehrreich und geglückt zugleich, so vor allem diejenige Goethes und Bismarcks. Es stellt sich heraus, dass Goethes Struktur ganz nahe der Grenze des ausgesprochen Pathologischen war, wie denn seine Schwester wie seine Söhne, ja auch schon sein Vater, medizinische Fälle darstellten. Und dass Bismarcks wunderbare Normalität ganz und gar auf bewusst erstrebtem und in eiserner Selbstzucht herbeigeführtem und durchgehaltenem Gleichklang zwischen auseinanderstrebenden, an sich unvereinbaren Trieben beruhte. Eben dies aber bedingte seine ungeheuere Dynamik.

Von hier aus versteht man zum ersten Male ganz das so häufige Phänomen, dass junge Leute viel versprechen und nachher gar nichts halten, und dass viele zeitweilig wirklich Geniale nachher zu ganz gewöhnlichen Philistern werden (möglicherweise, das sage ich, liegt hier auch der Grund von Shakespeares Abdankung?): allemal beruhe das darauf, dass nur zeitweilig, und meist nur in der Pubertätszeit, starke Spannungen auch in ihnen wirksam waren. Und am stärksten sind sie bei beinahe jedem in seiner Jugend; Ortega behauptet sogar, seinen produktivsten Zustand erlebe schlechthin jeder mit genau 26 Jahren. Aber auch hier gibt es Ausnahmen, und zwar sogar phantastische. Conrad Ferdinand Meyer war bis in sein fünftes Jahrzehnt hinein ein hoffnungsloser Geselle, schwer pathologisch, nichtsnutzig, anscheinend unbegabt. Bis er dann plötzlich richtig jung wurde und seither bis zu seinem Tode ein bedeutendes Werk nach dem anderen schuf.

Wichtig ist bei Kretschmer auch dies, dass er die falsche Auffassung vom Wert der Reinrassigkeit endgültig erledigt; d. h. erledigt war diese bei allen Wissenden längst, aber Kretschmer gibt ihr sozusagen den Fangschuss. Es steht völlig einwandfrei fest, dass vollkommene Reinrassigkeit Ausgeglichenheit aller Spannungen bedeutet und darum unproduktiv ist. Darum sind alle hohen und großen Begabungen in Mischzonen geboren worden: für Deutschland lässt sich dies mit beinahe mathematischer Exaktheit nachweisen. Alle hohen Kulturen entstanden, nachdem das Blut der jeweiligen Eroberer mit dem besten Blut begabter Eroberter eine optimale Mischung eingegangen war — die natürlich aufhörte, optimal zu sein, nachdem der neue Gleichgewichtszustand völlig konsolidiert war. So kam es zu großen Kulturblüten in Indien, Hellas, Italien (Antike und Renaissance), Frankreich, England und Deutschland. Soweit unsere wissenschaftliche Erfahrung reicht, frommt nur Mischung zwischen nicht zu fern Verwandten, doch jene reicht eben nicht weit. Wie sind z. B. die alten Ägypter entstanden? Die Ähnlichkeit des Nophretete-Typus mit dem der besten heutigen Brasilianerin lässt mich vermuten, dass auch dort eine glückliche weiß-braunschwarze Mischung vorlag; nur lag diese Mischung, von der Zeit von Ägyptens erreichter Größe her gerechnet, schon sehr weit zurück. Das biologisch Wichtigste im positiven Sinn an der heutigen Zeit sind auch die neuen Möglichkeiten jeweiliger Rassenmischung. In Deutschland z. B. stellen Katholiken und Protestanten richtige besondere Rassen dar, denn seit der Reformation haben Bekenner der beiden Konfessionstypen kaum mehr untereinander geheiratet; tun sie es jetzt, so werden neue produktive Spannungen entstehen. Gleiches kann die Vermischung der bisher voneinander beinahe hermetisch abgeschlossenen Stände zur Folge haben. Jedenfalls liegt das Produktive dieser Zeit nicht in der Gleichschaltung — letztere ist nur ein durch kein anderes zu ersetzendes Mittel, Großräume zu schaffen —, sondern in der Ermöglichung und biologischen Begründung neuer Spannungen.

Doch zurück zu Kretschmer. So rein positiv ich die Arbeit des Erbbiologen, des Psychologen und Arztes beurteile, seine Theorie vom Geist, die freilich aus seinem Buche nur herauszulesen ist, teile ich nicht. Hier macht Kretschmer m.A.n. den gleichen Fehler wie Ortega in seiner Geschichtsphilosophie. Letzterer behauptet, die historische und damit lebendige Wirklichkeit erschöpfe sich in den circumstancias, d. h. in dem, was empirisch nachweisbaren Kausalreihen unter- und einzuordnen ist. Das stimmt nicht: schon hier lenkt zutiefst ein autonomer Geist das Geschehen, die Umstände betreffen nur die Ausdrucksmittel. Im höchsten Grade nun ist das bei der Einzelpersönlichkeit der Fall. Jeder Genius ist zunächst Genius tout court, eine autonome metaphysische Erscheinung, die nach Selbstverwirklichung im Rahmen des Vorgefundenen strebt. Aber das gelingt nur mittels empirischer Umstände, und die Natur der Dinge will es so, dass diese schwierig, ja widrig sein müssen, auf dass jene gelänge. So und nicht anders erklärt sich das Pathologische ganz großer Geister. Sie sind pathologisch in keinem anderen Sinn wie unglückliche Lebensumstände pathologisch sind. Vielleicht gelangen gar Wissenschaft und ärztliche Kunst noch einmal dahin, im Krankhaften ein Normaleres zu sehen, als in der Gesundheit, welche der Philister meint? Wo immer Wandlung und Verwandlung zum echten Wesensausdruck gehört, oder wo gar Höherstreben des Wesens tiefstes Wesen ausmacht, bedeutet ein endgültiges Gleichgewicht beliebiger Artung keinesfalls einen Optimalzustand.

Wo immer aber Gleichgewicht labil und damit prekär ist, zeigt die Erscheinung pathologischen Charakter. An dieser Stelle sei nochmals dessen gedacht, wie vorgeschrittenste Biologen neuerdings die Aufwärtsentwicklung des Lebens sehen und verstehen. Diese besteht grundsätzlich und ganz allgemein gesprochen in der fortschreitenden Einstülpung dessen, was zunächst ausgestülpt in den Weltenraum hineinragte. Die Pflanze ist vollkommen Welt-offen, bei ihr entspricht die Sonne dem, was beim Menschen sein Ich ist. Niedere Meeres-Tiere sind Meer- Würmer und Lurche Humus- oder Sumpf-offen, kein Tier überhaupt wird von einem abgeschlossenen Ich regiert. Beim Menschen nun geht die Einstülpung des ursprünglich Ausgestülpten so weit, dass das immaterielle Innenleben nicht nur bestimmt, sondern allein noch schöpferischer Neugestaltung fähig ist. So erweist sich die räumliche Einstülpung, Einschränkung und Konzentrierung als Vorbedingung geistig-seelischen Welterfassens. Der entsprechende Dimensionswechsel nun, der ganz unten auf der Stufenleiter der Wesen einzugreifen beginnt, vollzieht sich allemal so, dass nach außen drängende Energien zurückgestaut werden. Doch nicht um Verdrängung im psychoanalytischen Verstande handelt es sich hier, und auch nicht um Sublimierung, sondern um Verlagerung der Schöpferkräfte auf eine neue Ebene. Diese wirken sich bis zu den höchsten Tieren hinan physisch-schöpferisch aus; beim Menschen allein in der Freiheit des Geistes. Aber alle Stauung ist und bleibt an sich ein pathologisches Phänomen und wird als solches empfunden: daher die Notwendigkeit für einen strebenden Menschen von Schwierigkeit und Leid, und für jedes Wesen die Notwendigkeit des Schmerzes. Ganz selten nur gelingt Translokation von Energien vollkommen, und nicht häufig gelingt sie überhaupt. Daher, noch einmal, das Pathologische der meisten übernormal Begabten. Aber auch im Tierreich gibt es sozusagen gescheiterte Existenzen, verkörpert in Unterwegsgestalten. Nicht Übergänge sind das, sondern gleichsam unreine Bildungen, die merkwürdigerweise überall den reinen Gestalten zeitlich vorangehen. Insofern gibt es nicht nur prophetische Menschen, sondern auch prophetische Tiere.

Zum Abschluss ein Hinweis auf einen äußerst wichtigen Gedanken in Hermann Nohls Charakter und Schicksal (Frankfurt a. M. 1940, Verlag Gerhard Schulte-Bulmke). Von jeher bezweifelte ich das Dasein einer der Mütterlichkeit entsprechenden Urlebensform der Väterlichkeit: Vaterschaft bedeutet dem Mann ein viel zu Äußerliches, als dass sich hier ein mächtiges Triebartiges hätte bilden können; das Väterliche im Manne hat in erster Linie Geistesgründe. Neueste charakterologische Forschung hat nun festgestellt, dass der weiblichen Mütterlichkeit in ihrer Spannweite vom tierischen Trieb bis zur sublimsten Spiritualität beim Manne nicht die Väterlichkeit, sondern die Ritterlichkeit entspricht; jene bedeutet dieser gegenüber eine Abwandlung. Der wirklich männliche Mann neigt von Natur dazu, Schwache zu schützen, gerecht zu richten, unter Selbstopfer vorbildlich zu wirken und fair play walten zu lassen: eben diese Uranlagen vergeistigt und sublimiert das Ideal der Ritterlichkeit. Darum wird der noch so harte aber edle Fürst und Feldherr spontan als Vater verehrt, und der ausnutzerische leibliche Vater von den Kindern verachtet. Eben darum bedeutet Verlust an Ritterlichkeit allemal Verkümmerung der Männlichkeit. Man denke nun von hier aus an das Entmannte des Amerikaners, dem das Geschäft über die Ehre geht, und an die absolute Unväterlichkeit des Bolschewisten, welchem Rittergesinnung völlig fremd ist. Woraus weiter folgt: Brutalität ist, genau wie Schiebertum, Beweis von Unmännlichkeit. Dementsprechend sind die meisten Brutalen moralisch feige. Man vergesse nie: der moralische, nicht der physische Mut macht den Mann.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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