Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

2. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1921

Bücherschau · Gilbert T. Sadlers — The Infinite in the Finite

Von befreundeter Seite wurde mir Gilbert T. Sadlers Büchlein The Infinite in the Finite (London 1921, C. W. Daniel) zugestellt, mit der Anregung, dasselbe ins Deutsche übersetzen zu lassen. Die seelische und spirituelle Entwicklungsstufe des Verfassers ist allerdings hoch, und seine philosophische Bildung für einen Briten erheblich. Aber bei dieser Lektüre wurde mir wieder einmal klar, wie unentwickelt die englische Intellektualität gegenüber der deutschen ist, und wie aussichtslos daher die Erwartung, dass seelisch und spirituell bedeutende englische Bücher auch in deutscher Fassung wirken müssen. Es kann leider nicht geleugnet werden, dass Deutschland hinter dem England, das ein bewusstes seelisches und geistliches Leben führt, noch weit zurücksteht; soviel hier über die Seele und Gott geschrieben wird — nur ganz ausnahmsweise spricht aus der Darstellung lebendig-echtes Wissen, während solches unter ganz unintellektuellen Engländern überraschend häufig vorkommt. Es ist nicht wahr, dass die Deutschen von heute ein seelisch bestimmtes Volk wären: ihnen eignet am meisten Sehnsucht nach Seele, was ein ganz anderes ist. Aber andrerseits: werden sie jemals seelenbestimmt, dann können sie, dank ihrer höheren Intellektualität, eine höhere innere Bildungsstufe erreichen, als jene sie erklommen haben.

Wer heute noch so großes spirituelles Wissen durch unzulängliche geistige Mittel ausdrückt, wird nie mehr dauernd fördern; dazu sind wir alle schon zu sehr intellektualisiert. Deshalb erwarte ich von der englischen Spiritualität für die Zukunft wenig. Nur Neuverknüpfung von Seele und Geist kann einen Fortschritt einleiten. Und darauf kommt es an. Das Ewig-Wahre trägt auf Erden notwendig einen zeitlichen Körper — also ist ihm nur der entwickelt, denkbarste jeweilig gemäß. Wie uns die Naturwissenschaft eines Paracelsus heute nicht mehr befriedigt, obschon er in vielem tiefer blickte als die heutigen Ärzte, so sollte es auch mit religiösen und metaphysischen Büchern sein. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich das Studium der englischen im Original für besonders wichtig: wer deren Wahrheitskern erfasst, dem wird besonders deutlich, woran es im übrigen fehlt; was ihm den Ansporn geben könnte, eine gleiche Einsicht besser auszudrücken. Aber freilich muss diese erst gewonnen sein, und gar vielen Deutschen, die von der Seele reden, fehlt sie ganz. Solchen wäre zu verordnen, in meditativer Lektüre englischer Weisheit zunächst einmal dahin zu gelangen, seelische Wahrheit in unbefriedigendem geistigen Ausdruck als solche zu schauen. Zu dieser Übung empfehle ich freilich weniger Sadler als die Bücher der schon im Reisetagebuch empfohlenen Adela Curtis, weil diese spirituell besonders tief und intellektuell besonders unbefriedigend ist.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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