Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
3. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1922
Von der Schülerschaft in der Schule der Weisheit
Als ich die erste Mitteilung über Wesen und Plan der Schule der Weisheit veröffentlichte (im 1. Heft des Wegs zur Vollendung), da wagte ich nicht zu hoffen, dass der gepflanzte Keim so schnell erwachsen würde, wie er es getan hat. Schon heute — noch ist kein Jahr seit Niederschrift jenes Aufsatzes verstrichen — sehe ich mich genötigt, dieselbe als überholt zu erklären und durch die folgende zu ergänzen.
Bisher wirkte sich der Impuls, den wir vertreten, auf zwei Wegen aus: dem der Tagungen und dem der individuellen Förderung des Einzelnen. Während der Tagungen begeben sich deren Teilnehmer in ein geistiges Kraftfeld hinein, das dadurch geschaffen wird, dass die vortragenden Persönlichkeiten akkordartig, in dem was sie sind und sagen, aufeinander abgestimmt erscheinen, und die Zuhörer sich gleichzeitig so einstellen, dass sie vornehmlich auf das Wer
und das Wie
, nicht auf das Was
achten. So wirkt der Sinn unwillkürlich durch Wort und Buchstaben hindurch. Und wie das Auge am Licht erwachsen ist, so öffnen sich auch die Organe tieferen Verstehens. Die Erfahrung hat bewiesen, dass das so geschaffene Kraftfeld tatsächlich eine selbständige Wirkung auslöst: überraschend viele Tagungsteilnehmer kehren das nächste mal vertieft und in wesentlicherer Einstellung hierher zurück. — Der zweite Weg der Auswirkung des Impulses der Schule der Weisheit war und ist die private Schülerbehandlung, entsprechend der Darstellung in unserem ersten Heft. Dieser hat sich als der eigentliche durchaus bewährt. Ganz gleich, was die Schüler, welche herkamen, vertraten, dachten, wollten, gleichviel, welchen Kreisen sie entstammten: in jedem Fall genügender Begabung, genügender Konzentrationskraft und genügend ernsten Wollens ist es gelungen, ihr spezifisches Wesen auf seinem spezifischen Weg zu vertiefen und zu energisieren, wodurch bewiesen ist, dass jedes Leben sinnvoll werden kann, jede Arbeit geadelt und letztlich jede Persönlichkeit weise und überlegen. — Diese zwei Wege genügten aber nicht, um dem Impuls, den wir vertreten, zu voller Auswirkung zu verhelfen. Die Tagungen regen zur richtigen Einstellung vom Geist her an, sie können sie in ihren Teilnehmern nicht fest und allseitig fundieren. Letzteres bewirkt gerade die Einzelhandlung, doch müsste diese, um alles zu leisten, was sie vermag, einen allgemeinen Zustand voraussetzen, der sich zum Ziel jener verhielte, wie die Gattung zum Individuum. Der Einzelne muss überhaupt meditieren, sich konzentrieren, sich freiwillig umstellen, sich schöpferisch selbst vom Geist her beeinflussen können — und dies jedem Einzelnen besonders beizubringen, bedingte unverantwortbaren Zeitaufwand. So werden denn fortan die beiden bisher betretenen Wege durch einen dritten ergänzt: den der gemeinsamen Übungen oder Exerzitien. Solche für Anfänger, dreitägig disponiert, werden stattfinden, so oft eine genügend große Anzahl Mitglieder der Ges. f. F. Ph. — es müssen jedesmal nicht unter 50 zusammenkommen — sich zu bestimmtem Termine vermerkt. In diesen Übungen werden Konzentration, Kontention und Meditation überhaupt gelehrt; es wird die Technik der Selbstbeeinflussung, die heute so wenige kennen, angezeigt, zugleich ihr Sinn erklärt. Diese Übungen stehen allen Mitgliedern der Ges. f. F. Ph., die sich zu denselben einfinden können, selbstverständlich offen. — Für die eigentlichen Exerzitien, wie solche zuerst vom 3.- 8. Oktober abgehalten wurden, ist persönliche Aufnahme durch Herrn Dr. Rousselle erforderlich, der letztinstanzlich entscheidet, wen er für geeignet hält und wen nicht. Zu diesen Übungen, welche sehr hohe innere Anforderungen an die Leiter stellen, werden grundsätzlich nur solche zugelassen, deren Weiterbildung sich vom Standpunkt der Allgemeinheit lohnt, also, allgemein gesprochen, Führernaturen. Die Schule der Weisheit ist ja kein Seelsorgeamt und keine Heilanstalt; ihr kommt es nicht auf den Einzelnen als solchen an, sondern einzig darauf, was der Einzelne als Werkzeug des Ganzen bedeuten kann; nur dem wird viel gegeben, der viel weiterzugeben verspricht. Deshalb werden, aus rein physiologischen Gründen, im allgemeinen nur Männer von mindestens 25 Jahren angenommen (Ausnahmen bleiben vorbehalten). Die Schule der Weisheit kommt schon im allgemeinen nur für solche in Frage, welche die Dialektik und die Konflikte der ersten Jugend hinter sich haben; es gibt sehr wenige unter 25 Jahren, auf die sich längere Einwirkung von unserem Standpunkt aus lohnt, weshalb solche als Schüler überhaupt nur ausnahmsweise angenommen werden. Diese Bedingungen müssen verschärft werden im Falle der Exerzitien. Diese stellen solche Anforderungen an Nerven und Geist, dass sie, wie gesagt, schon aus physiologischen Gründen für sehr junge nicht angezeigt erscheinen. — Diese Exerzitien werden vierteljährlich stattfinden. Die jeweiligen Teilnehmer, deren Zahl aus technischen Gründen jeweilig nicht mehr als 35 betragen kann, sollen sich immer erst übers Jahr zu neuen hier einfinden, die dann entsprechend dem inzwischen stattgefundenen inneren Wachstum gestaffelt werden sollen, denn uralte Erfahrung lehrt, dass der psychische Organismus ein häufigeres strenges Training dieser Art nur ausnahmsweise verträgt. Wer nun an den Exerzitien teilnehmen will, der muss die hier erforderliche Einstellung unter allen Umständen schon vorher besitzen. Er muss meine Hauptschriften gelesen, an den Tagungen teilgenommen haben oder privatim Schüler gewesen, unter allen Umständen uns persönlich bekannt sein. Deshalb sollen alle, welche an den Exerzitien teilnehmen wollen, sich, soweit sie nicht schon früher hier weilten, etwa 8 Tage vorher in Darmstadt einfinden, um persönlich mit uns Fühlung zu nehmen. Ich aber werde fortan die Hauptschülerbehandlung an die Exerzitien, die Dr. Rousselle unter meiner Teilnahme leitet, anschließen.
Vorhin schrieb ich, das, was die Exerzitien gäben, verhielte sich zur Individualbehandlung wie die Gattung zum Einzelwesen. Jedes Individuum gehört zunächst seiner Gattung an; ist deren Typisches nicht normal ausgebildet, so fehlt dem Einzigartigen die Grundlage. Ebenso werden erst die volle Förderung als individuelle Schüler empfangen, die das erreicht haben an innerer Bildung, was jedem Menschen frommt. So werde ich mich denn fortan hauptsächlich viermal im Jahr, von der Woche nach den Exerzitien anhebend, den Einzelnen widmen; jedenfalls werden die, welche vorher allgemein geübt haben, am meisten von mir haben. Im Übrigen steh ich nach wie vor, solange ich in Darmstadt weile, denen, die als Schüler herkommen, jeden Nachmittag, außer Sonnabends und Sonntags, zwischen 3 und 5 zur Verfügung (Dr. Rousselle an den gleichen Tagen von 11-1). Nur gibt es jetzt keine zu erwerbende Schülerschaft mehr1; die jeweilige Annahme setzt vorherige persönliche und briefliche Fühlungnahme voraus, die zunächst nicht mit mir, sondern mit Dr. Rousselle zu geschehen hat, und die Lehrenden allein entscheiden, wie lange und wann sie sich dem Einzelnen widmen wollen. Unter allen Umständen werden fortan die, welche an den Exerzitien teilnehmen, bevorzugt werden. — Was nun diese selbst betrifft, so sei zunächst nur soviel öffentlich mitgeteilt: Unsere Übungen sind nichts Okkultes und führen nicht okkulter Ausbildung zu. Sie dienen lediglich der spirituellen Höherbildung des Menschenwesens, und unterwegs dessen normaler Stählung und Energisierung. Wir berücksichtigen alle Erfahrungen der orientalischen Yoga und westlichen Asketik, gehen im übrigen aber unseren eigenen, unmittelbar unserm Ziele zuführenden Weg.
Die Schülerschaft an der Schule der Weisheit ist fortan ein greifbareres, als sie es früher war. Wenn hier auch niemals Kenntnisse als Selbstzweck vermittelt werden sollen, so wird in ihr fortan doch mancherlei äußerlich geschehen, was dem oberflächlichen Beobachter besser einleuchten wird als ihr bisheriger Weg. Demgegenüber muss ich noch einmal ausdrücklich folgendes betonen. Das Eigentliche der Schule der Weisheit ist und bleibt die Förderung des Einzelnen, seine Erhebung auf ein höheres Seinsniveau, von freierer Selbstbestimmung, tieferer Wahrhaftigkeit, von größerer innerer Überlegenheit. Ihre Originalität besteht einzig und ganz in der Vertretung und Vermittelung der höheren Sinneserfassungsstufe (und entsprechenden Gesinnung), die allein in meinen Augen einen wesentlichen Fortschritt einleiten kann. Dieses besondere Ziel nun gibt allem, was in ihr geschieht, einen besonderen Sinn. Wer von unseren Übungen liest oder hört, mag meinen, derartiges gäbe es anderweitig auch, wir betrieben nichts anderes gar als manche religiöse Orden. Äußerlich, dem Buchstaben nach, ist dieses Urteil in mancher Hinsicht nicht falsch. Aber das gleiche Tun hat bei uns einen anderen Sinn, und da auf dem Gebiet des Lebens die Bedeutung den Tatbestand erschafft, so ist unser Training doch ein anderes als alle sonst bekannten. Was anderen Arithmetik ist, ist uns bloß Algebra: was anderen Wesen bedeutet, ist uns bloß Ausdrucksmittel oder Weg. Die Exerzitien als solche werden nie die Hauptsache in der Schule der Weisheit sein; sie schlagen nur den allgemeinen Rhythmus an. Wir wollen ja keine Typen züchten, sondern höhere Individualitäten heranbilden. Dementsprechend muss die Melodienbildung notwendig von Fall zu Fall erfolgen. Und um den Grundton gar zu finden und zu dauerndem Anklingen zu bringen, zu diesem eigentlichen und letzten Ziele aller Selbstvervollkommnung weist nach wie vor nur dem Außenstehenden unmerkliche und oft unverständliche Einzelbehandlung, in der nichts eigentlich geschieht, den Weg.
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