Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
3. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1922
Bücherschau · Besant, von Loyola, Jung, Baudouin, Montessori…
Immer mehr Anfragen, die für die Selbstentwickelung förderliche Bücher betreffen, treten an mich heran. Nun habe ich all mein persönliches Wissen und Können, soweit es sich auf Weisheit bezieht, aus eigener lebendiger Erfahrung gewonnen; hier waren mir Bücher niemals mehr als Wegweiser, und an solchen bin ich seltener vorbeigekommen, als die Meisten glauben, die aus der Übereinstimmung mancher meiner Lehren mit anderen, nach gutdeutscher Art, so gern auf Abhängigkeit schließen. Je mehr einer selbst erlebt und denkt, desto mehr erwirbt er sich persönlich von dem, was, sofern es wahr oder wirklich ist, aller Menschen mögliches Besitztum ist und nur dank der Trägheit der meisten als besonderes geistiges Eigentum derer in die Erscheinung tritt, die es entweder wirklich zuerst entdeckten und verstanden, oder als Entdecker und Versteher zuerst bekannt wurden. Ferner vergesse ich sehr schnell, behalte eigentlich nie Empfangenes als solches, sondern nur das, was es in mir auslöste. Ein richtiges Yoga-Buch für moderne Europäer gibt es überhaupt noch nicht; vielleicht finden die Erfahrungen an der Schule der Weisheit einmal in einem solchen ihren Niederschlag. Das ungefährlichste die indische Yoga betreffend ist Annie Besants Einführung in die Yoga
(deutsch bei Otto Schwartz, Hannover, Horstmanstraße); sehr lesenswert sind die Schriften von Adela Curtis, deren Neue Mysti
in trefflicher Verdeutschung beim Anthropos-Verlag, Prien, Obb. erhältlich ist auch die neue Ausgabe der Exerzitien des Heiligen Ignatius von Loyola (Katholikon Bd. I, München 1921, O. C. Recht Verlag) kann ich sehr empfehlen.
Aber mit diesen Angaben ist, ich weiß es, den Fragern nicht ganz gedient. Ich bin wirklich kein Literaturkenner. Wie soll ich da raten, was man lesen soll? — Allein ich muss wohl. So habe ich mir denn für meine Ferienzeit, in Ermangelung praktischer Wegweiser, einige theoretisch-psychologische Bücher mitgenommen, die mir von gelehrteren, als ich es bin, empfohlen wurden. Als erstes unter diesen las ich R. Holzapfels Panideal, Psychologie der sozialen Gefühle
ein wenig bekanntes, längst vergriffenes Buch, das aber heute ganzen Schulen und Sekten zur Orientierung dient. Es ist unsagbar schwer leserlich, sehr schlecht geschrieben, in jenem unglückseligen Paragraphenstil, den so viele Gelehrte aus der juristischen Literatur übernommen haben, wie man denn immer am leichtesten schlechte Gewohnheiten annimmt; Wortneubildungen, Begriffsagglutinationen erschweren das Verständnis, das ganze Äußere des Buches ist verdammenswert. Und doch ist sein Gedankengehalt bedeutend. Wohl als erster hat Holzapfel es unternommen, für die ethische Vervollkommnung empirisch-psychologische Grundsätze aufzustellen, wohl als erster den konkreten Idealbegriff, den ewig sich wandelnden, den auch ich vertrete, zu fassen versucht, und man muss zugestehen, dass beides ihm so gut gelungen ist, dass Holzapfel sicher, je weiter die Zeit fortschreitet, d. h. je mehr die Menschheit die von ihm in abstracto abgesteckten Wege geht, desto höhere Wertschätzung erfahren wird. Ich möchte sein Buch allen denen, aber auch denen allein empfehlen, welche praktisch in der Selbstvervollkommnung schon einige Erfahrung haben. Diesen werden seine Begriffsbildungen zur weiteren Klärung verhelfen. Andere hingegen lassen es besser beiseite, sein überabstrakter Charakter könnte sie leicht verführen. Ich möchte auch keine Neuauflage des gehaltreichen Werks empfehlen (die erste und letzte erschien 1901 in Leipzig bei Johann Ambrosius Barth), sondern statt dessen anregen, dass irgend jemand, der es ganz verstand, seinen Inhalt umschriebe. Ohne Schwierigkeit ließe sich nämlich der gleiche Inhalt in leichtverständlichem Deutsch wiedergeben.
Wer Schweres nur schwerfällig ausdrücken kann, der ist Barbar; das Deutsche könnte, bei genügenden Anforderungen, die an die Schriftsteller selbstverständlich gestellt würden, ein wenigstens für Deutsche ebenso unmittelbar verständliches Übertragungsmittel des Sinnes werden, wie dies vom Französischen für alle Europäer gilt. — Wenn ich Holzapfel nur wenigen empfehlen kann, so wünschte ich hingegen das Werk des Züricher Psychoanalytikers C. G. Jung Psychologische Typen
(Zürich 1921, Rascher & Co.) in die Hände aller derer, denen mein praktisches Wirken förderlich erscheint. Ich persönlich las noch kein psychologisches Buch, das mir gleichviel gegeben hätte. Für den Tieferblickenden gibt es praktisch keine abstrakten, sondern nur konkrete Probleme, keine Regeln, sondern nur Situationen; an Begriffssysteme, die für alles Leben gelten sollen, glaubt er nicht. Dies bedingt aber nicht, dass jeder Fall einzigartig wäre, obschon er als solcher immer einzig ist: er gehört allemal einem bestimmbaren Typus an. Die erste befriedigende Typenlehre nun, die mir bekannt wäre, gibt Jung. Sie ist die erste mich befriedigende deshalb, weil Jung als erster radikal genug ist, um zu behaupten, dass jedes Problem, je nach, dem, welchem Typus es sich stellt, eine andere richtige Lösung verlangt; d. h. für Jung bedeutet das, was man meist subjektiv heißt, unter Umständen das bedingungslos Richtige und Wahre. (vergl. z. B. S. 698:
Ich bin ganz überzeugt, dass ein Naturvorgang, der in hohem Maße von der menschlichen Psychologie unabhängig ist und ihr daher nur Objekt sein kann, nur einerlei wahre Erklärung haben kann. Ebenso bin ich überzeugt, dass ein komplexer psychischer Vorgang, der in keine objektiv registrierenden Apparate eingespannt werden kann, notwendigerweise nur die Erklärung erhalten kann, die er als Subjekt selber erzeugt, d. h. der Autor des Begriffs kann nur einen solchen Begriff erzeugen, welcher zu dem psychischen Vorgang, den er zu erklären trachtet, stimmt. Der Begriff wird aber nur dann stimmen, wenn er mit dem zu erklärenden Vorgang im denkenden Subjekt selbst übereinstimmt.)
Ferner ist Jung der erste mir bekannte Psychologe, der die jeweilige psychische Wirklichkeit konsequent und durchaus auf ihre Bedeutsamkeit gründete und deshalb der erste, dessen Psychologie den Weg wiese zu einer richtigen Metaphysik. Es ist geradezu großartig, wie selbstverständlich es Jung, von seinem Standpunkt aus, sowohl die metaphysische Tiefe der Upanishads und der christlichen Mystik, als Nietzsches historische Wirkung, als endlich die Wahnvorstellungen beliebiger Irrer zu würdigen gelingt. Hier ist ein Weg eingeschlagen, der weiter zuführen verspricht, als irgendein bisher von Psychologen eingeschlagener. Über seine Bedeutung für die abstrakte Erkenntnis bin ich mir noch nicht klar. Aber unabhängig von dieser sollte jeder nach Weisheit Strebende das Buch studieren, denn es wird ihn unter allen Umständen lehren, sich selbst besser und tiefer zu verstehen, zumal generöser zu werden gegen sich selbst.
Die Hauptschwierigkeit für jeden christlich Erzogenen (auch wo er persönlich ungläubig ist) liegt ja in dem, dass er über sich urteilt, bevor er sich verstanden hat, und dadurch Hindernisse schafft auf seinem eigenen Weg. Wer weiter kommen will, muss sich zunächst einmal anerkennen, so wie er ist. Dadurch, dass er sich missbilligt, kommt er keinesfalls vorwärts. Er muss zunächst vorurteilslos die jeweilige Lage übersehen und dann zusehen, wie er von dieser her zur erwünschten weiter gelangen kann. Den jeweiligen Weg zu finden, kann nichts ihn nachhaltiger hindern, als das Festhalten an irgendeinem starren Sollens
begriff, der automatisch Minderwertigkeitsgefühle schafft, und weniges ihn entschiedener fördern, als ein eindringliches Studium von Jungs psychologischer Typenlehre. — Sehr lesenswert für alle ist ferner, trotz ihres einigermaßen spezialistischen Charakters, Alfred Adlers Praxis und Theorie der Individualpsychologie
(München und Wiesbaden 1920, J. F. Bergmann). Aus den Ausführungen dieses Arztes geht besonders einleuchtend hervor, dass der letzte Grund des Menschenwesens geistig ist und daher nur vom Geist her verstanden und behandelt werden kann. Nach Adler ist das Primäre jeder Individualität nicht ihr Anlagenkomplex, sondern ihre geistige Zielrichtung; diese rufe automatisch, als Mittel zum Zweck, alles weitere in der Persönlichkeit, im Leben und Schicksal hervor — sogar die Charakterzüge und Krankheiten hätten selten selbständige Bedeutung, der Mensch erschaffe sie seinem unbewussten Ziel gemäß. Was besagt dieses anderes, als dass auf dem Gebiet des Lebens der Sinn den Tatbestand schafft? —
Die analytische Psychologie (deren Hauptwerke ich erst jetzt zur Kenntnis genommen habe; die Beziehung zwischen meinen Bestrebungen und denen der Individualpsychologie habe ich nachträglich hergestellt) umgrenzt die empirische Grundlage für das, was die Schule der Weisheit anstrebt. Man braucht bloß den Sinn tiefer zu fassen, vom vorgegebenen zum gesetzten zu erheben, anstatt den Wieder- oder Aufbau der Persönlichkeit deren Höherbau anzustreben — und aus der Praxis des Arztes wird von selber die des Weisheitslehrers. — Aber am praktisch wichtigsten von allen psychologischen Büchern, die mir letzthin in die Hände kamen, ist doch C. Baudouin’s Suggestion et autosuggestion, etude psychologique et pàdagogique l’après les résultats de la nouvelle école de Nancy
(Neufchâtel 1920, Delachaux a Niestlé S. A.); dieses Buch sollte schleunigst ins Deutsche übersetzt werden. Hier ist die Technik jeder Selbstvervollkommnung, gehe sie von religiösen oder ärztlichen Voraussetzungen aus, zum ersten Male wissenschaftlich klar erfasst, wodurch sich zum erstenmal als reine Technik erweist, was bisher immer mit bestimmten metaphysischen oder okkulten Dogmen verquickt erschien. Welches ist der Weg, auf dem die Natur bloß Vorgestelltes in Wirklichkeit umsetzt? Das ist offenbar das Grundproblem aller Erziehung. Und da zeigt denn Baudouin, dass das wesentlich Beeinflussende nicht der bewusste Wille ist (die Absicht verstimmt sie nur!), sondern ein anderes, schwer zu Bestimmendes, dass indes mit dem, was man Phantasie heißt, am meisten Ähnlichkeit hat, und das Baudouin eben als Suggestion definiert; im gleichen Sinn wirke nicht die gewöhnliche Aufmerksamkeit (Attention) schöpferisch, sondern eine andere Art Konzentration, die der Verfasser Kontention nennt. Hier kann ich nur hinweisen, nicht referieren; jeder Weisheitsbeflissene nehme selbst das Buch zur Hand; es stellt eine der wichtigsten Etappen auf dem Wege dahin dar, durch Sinneserfassung die Dogmatik zu überwinden. — In Bezug auf die Ethik gilt ähnliches von einem im Magnum-Opus-Verlag, Freiburg i. Br. erschienenen anonymen Buch Das große Werk, das aufbauende Prinzip der Natur im individuellen Leben
. Anfang und Ende atmen eine höchst unsympathische okkultistische Atmosphäre. Aber der ethische Teil ist, wie wenig anderes, geeignet, dem Leser den Sinn des Moralischen zu enthüllen — und dies ist eben, nach dem Zusammenbruch aller Dogmatik, der einzige Weg zur Anerkennung ewiger Wahrheit zurück. Den Chinesen, den universellen Meistern der Moralität, hat diese nie anderes bedeutet, als gebildete Natur. Hier nun wird gezeigt, weshalb das Moralische sich immer von selbst versteht
. Es sei ein (als solches unzurückführbares) Naturgesetz, dass nur ein Leben gemäß den Grundsätzen der Moral die innere Entwickelung fördert. Sogar Verbrechen seien nicht immer äußerlich unpraktisch, aber schon Zügellosigkeit leite auf die Dauer psychische Schwindsucht
ein. —
Wenn dem so ist, und mir scheint es im großen Ganzen so zu sein, dann verliert das moralische Gesetz das meiste von seiner mysteriösen Erhabenheit; es hört sogar auf, ein metaphysisches Problem zu sein. Dafür gewinnt es den Charakter eines tatsächlichen Zusammenhangs, der ebensowenig beanstandbar erscheint wie ein beliebiges Naturgesetz, von denen sich keines vernunftgemäß begründen lässt. Der indische Karma-Begriff war von jeher dem Leben angemessener als unser Satz vom zureichenden Grund. Das große Werk
nun weist den Weg zu einer neuen Fassung, die dem Karma-Gedanken eine westländisch-einleuchtende Verkörperung gibt. — Soeben erfahre ich vom Verlag, dass das Buch nicht wieder aufgelegt werde, weil sein Verfasser sich als höchst bedenkliches Subjekt entpuppt hätte! Was er über die große Schule
, die Meister
usw. mitteile, sei reiner Schwindel, das übrige jedenfalls nicht in reiner Absicht verfasst. Diese Tatsache ist höchst interessant. Wieder und wieder werden die Verkünder esoterischer Weisheit als Hochstapler entlarvt. Aber man hüte sich, deshalb ihre Aussagen von vornherein zu verwerfen. Aller Menschen Wesen ist vielfältig; nur wenige derer, vor denen der Schleier ein klein wenig gelüftet ward, widerstehen der Versuchung, aus ihrem besseren Wissen auf unerlaubte Weise Kapital zu schlagen; sobald Geheimnistuerei überhaupt zum Programm gehört, führt die Logik des Unbewussten schier unvermeidlich zur Mystifikation. Vielleicht ist TK (der Verfasser des großen Werks
) ein ganz schlechter Mensch; nichtsdestoweniger gehören seine Kapitel über das ethische Problem zum Besten, was je darüber geschrieben ward. —
Doch das beinahe wichtigste unter den Büchern, dessen Studium ich empfehlen muss, kann ich erst an letzter Stelle nennen, weil ich erst zu Ferienschluss die Zeit fand, es zu lesen: dies ist Maria Montessoris Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter
(Deutsche Ausgabe, Stuttgart 1913, Julius Hoffmann Verlag), dessen Studium Tagore mir so sehr empfahl. Ich persönlich habe kein unmittelbares Verhältnis zu den Problemen der Kindererziehung; mich interessiert wirklich nur der physiologisch fertige Mensch, bei dem eben deshalb das rein geistige Wachstum beginnt oder beginnen kann. Aber wie ich die Montessori zu lesen begann, da ward ichs aufs seltsamste überrascht: sie betreibt Kindererziehung genau im gleichen Geist, den ich für die Höherbildung vertrete; ihr Streben und das meine sind buchstäblich eines Sinns. Nach ihr gilt es beim Kind vor allem, die Initiative zu wecken; alles an dessen Betätigungen verfolge in Wahrheit kein äußeres, sondern ein inneres Ziel, das lebendige Wachstum — wer dies verstehe und den Nachdruck in der Erziehung darauf lege, der wirke wahre Wunder, denn jedes Kind erweise sich so recht eigentlich als schöpferischer Geist; aus jedem Kinde könne ein seelisch so unverbogenes, vornehm gesinntes Wesen gemacht werden, wie solche sonst nur unter den bevorzugtesten Klassen erwachsen; die Erziehung dürfe nicht auf Wissen und Können, nicht auf Inhalte und fertige Schablonen, sie müsse in erster Linie auf Gesinnung und innere Einstellung ausgehen: klingen diese Sätze nicht sämtlich wie Zitate aus meinen Vorträgen und Schülergesprächen? — Ich möchte die vielen, welche meine Ziele nicht ganz verstehen, zunächst auf die Lektüre von Maria Montessori verweisen; was sie mit dem physiologisch an, strebenden Menschen ausführt, eben das erstrebe ich mit dem, der die bisher als höchste geltende Erziehung hinter sich hat. Denn für mich beginnt die Menschenbildung erst auf der Stufe, die der überwältigenden Mehrzahl als durchaus befriedigender Abschluss gilt.