Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
3. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1922
Bücherschau · Leo Matthias
Unter den jüngeren Schriftstellern verdient Leo Matthias besondere Beachtung. Schon vor einem Jahr war er mir aufgefallen durch einen Artikel über Dada — er hatte, nach deutscher Art, in dessen Bestrebungen mehr hineingelegt, als die Sache verträgt, aber dies auf so ungemein geistreiche Art, dass ich ihn seither im Auge behielt. Nun liegen mir zwei Bücher von ihm vor: Genie und Wahnsinn in Russland
und Die Partitur der Welt
(Ernst Rowohlt Verlag, Berlin W. 35), welche keinen Zweifel darüber lassen, dass wir es bei Matthias mit einer ganz außerordentlichen Begabung zu tun haben. Das erstere Buch halte ich für das weitaus bedeutendste, das über das bolschewistische Russland geschrieben worden ist1; nicht allein wegen der Perspektiven, die es eröffnet, sondern vor allem wegen der Perspektive, aus der es erschaffen wurde. Zum ersten Male sehe ich hier meine in meinen Vorträgen immer wieder betonte Forderung erfüllt, dass die Tatsachen des Lebens ausschließlich aus ihrer Bedeutung heraus verstanden werden können; meine These lautet bekanntlich: Die Bedeutung schafft den historischen Tatbestand.
über die Richtigkeit von Matthias’ Lesart der Symbole will ich hier kein Urteil fällen; unter allen Umständen ist sie so scharfsinnig und interessant, dass jeder Verständnisfähige, wie immer er persönlich denke, durch diese Lektüre in der Erkenntnis des heutigen Russlands weiter kommen wird. Aber nicht deshalb empfehle ich dieses Buch so warm: ich tue es deswegen, weil das richtige Lesen desselben in ungewöhnlichem Maße dazu geeignet ist, dem Leser die Organe unmittelbarer Sinneserfassung und damit den geistigen Hintergrund aller Wirklichkeit zu erschließen. Er achte bei der Lektüre nur darauf, wie, nicht was Matthias denkt: dann wird die Förderung, trotz mancher schiefer Einzelausblicke, nicht ausbleiben; er frage sich auf jeder Seite nicht: ist das, was Matthias sagt, auch richtig? sondern: wie kommt er dazu, auf diese besondere Weise zu sehen, die in überraschend vielen Einzelfällen die Wahrheit tiefer, als sonst geschieht, erfasst? Was ein anderer denkt, geht keinen an sich etwas an, aber jedes Gedanken können, in ihrem Urquell verstanden, den eigenen Urquell zum Entspringen bringen. — Greift nun der Leser später zur Partitur der Welt
, so wird er eine Enttäuschung erleben. Auch dieses Buch bezieht sich auf Tiefstes, doch es befriedigt nicht, warum? — Die Beantwortung dieser Frage führt in weitere eigene Tiefen hinab. Hier versucht Matthias die Perspektive, die sein Russlandbuch ermöglichte, an sich zu bestimmen, und das Ergebnis ist ein Gefüge von Abstraktionen, die einen nicht weiterbringen. Das muss so sein. Die Dimension der Sinneserfassung geht von innen nach außen zu; wer da fragt, wie der Sinn
nun definiert werden könnte, fragt falsch, denn als letzte Verstehensinstanz ist er an sich nicht zu fassen, während er am Ausdruck in jedem Sonderfalle evident gemacht werden kann. Wie das Göttliche in der Erscheinung der Welt zum Ausdruck kommt, und die Intention des Künstlers im Kunstwerk, so sind Perspektiven ihrem Wesen nach nur am Konkreten, das sie zu sehen ermöglichen, als richtig zu erweisen. Vom unglückseligen deutschen Glauben, dass das Abstrakte tiefer sei als das Konkrete, ist auch Matthias noch nicht frei. Hoffentlich wird er es mit der Zeit. Heute eignet ihm z. T. noch der Grundfehler Rudolf Kassners. Dieser ist ein überaus tiefer Geist. Da er aber mit letzten Wahrheiten als solchen operiert, so sind seine Bücher nur denen förderlich, die, gleicher Sinneserfassung fähig, unwillkürlich vom Sinn her auf die Erscheinung blicken.
1 | Das eindrucksvollste, Herz und Seele ergreifendste ist das im Münchener Drei-Masken-Verlag erschienene Buch Mereschkowskys Das Reich des Antichrist. In diesem Buch sind übrigens nicht Mereschkowskys persönliche Beiträge das bedeutendste, sondern die seiner Frau, Sinaida Hippius. |
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